Reviewed by Christian Zgoll, Universität Göttingen (czgoll@gwdg.de)
Was bewirken Mythen? Sarah Iles Johnston gibt in ihrem Buch eine Antwort, die eine Brücke zwischen ihren fachlichen Schwerpunkten schlägt, der Religionsforschung und der Klassischen Philologie: (Griechische) Mythen erzeugen und fördern „religious beliefs" (285). Das ist eine innovative Antwort, die eine klare Position bezieht, anders als bspw. in den Büchern von Kirk, die zwar das Wort „Funktion" im Titel tragen, in der Beantwortung dieser Frage aber schwammiger bleiben,1 und die deutlich abweicht von den Antworten, die in der Mythosforschung sonst oft gegeben werden.2 Nicht zuletzt widerspricht Johnstons Buch vor allem der Ansicht, griechische Mythen seien nur zu Unterhaltungszwecken vorgetragen worden. Andererseits ist es gerade das, was Johnston fasziniert und was sie, unter Einbeziehung von narratologischen, soziologischen und ethnologischen Ansätzen, besonders herausarbeitet: Dass Mythen Geschichten („stories") sind, die außerordentlich unterhaltend wirken und in der Lage sind, kohärente „story worlds" zu kreieren und eine enge Beziehung zwischen den Figuren der story world und ihren Rezipienten herzustellen. Die Pointe besteht nun gerade darin, dass nach Ansicht der Autorin Mythen diese wirkmächtigen Eigenschaften nicht in erster Linie entfalten, um Menschen zu unterhalten, sondern um den Glauben an Wesen zu bestärken, die den Rahmen der normalen Erfahrungswelt transzendieren.3 Das Buch ist in sieben Hauptkapitel unterteilt, die wiederum in Abschnitte gegliedert sind, deren Überschriften aber nicht im Inhaltsverzeichnis auftauchen, so dass die „Navigation" im Buch und auch der Überblick über das Behandelte etwas erschwert wird.4 In Kapitel 1 („The Story of Myth") werden grundsätzliche Fragen angesprochen wie die Unschärfe des Wortes und die Problematik einer Definition des Begriffs „Mythos", die Verortung griechischer Mythen in literarischen, religiösen und sonstigen gesellschaftlichen Kontexten (Johnston beschränkt ihre Untersuchungen auf den Zeitraum zwischen 800-300 v. Chr.), die Frage, was unter „(religious) beliefs" zu verstehen ist und ob und inwiefern die Griechen an ihre Mythen glaubten,5 gefolgt von einer Exposition des Inhalts der im Buch noch folgenden Kapitel. In Kapitel 2 („Ritual's Handmaid") geht Johnston auf verschiedene Ansätze der Mythosforschung ein, die – im Anschluss an Herder – eine ihrer Ansicht nach unfruchtbare „essentialization of Greek myths" (23) zur Folge hatten; besonders ausführlich behandelt die Autorin dabei u. a. die myth and ritual school sowie psychologische und strukturalistische Richtungen.6 Kapitel 3 („Narrating Myths") befasst sich mit der Frage, wie Geschichten so erzählt sein können, dass sie bei den Rezipienten den Eindruck von Wahrhaftigkeit vermitteln, selbst wenn das Erzählte nicht empirisch nachprüfbar ist, und wie durch bestimmte Erzähltechniken zwischen Figuren der erzählten Welt und den Rezipienten Beziehungen hergestellt werden können („parasocial relationships"), die „realen" sozialen Beziehungen zwischen Menschen in vielen Punkten entsprechen – und inwiefern griechische Mythen etwa durch ihren episodenhaften Charakter besonders gut in der Lage sind, solche „parasocial relationships" herzustellen und zu bekräftigen. Denn Episoden sollen dazu anregen, sich gedanklich vertiefter mit den handelnden Figuren zu befassen, u. a. durch die Frage: Was passiert(e) zwischen den Episoden?7 Im Anschluss zeigt Kapitel 4 („The Greek Mythic Story World"), dass griechische Mythen auf vielfältige Weise miteinander vernetzt sind und sich dadurch gegenseitig stützen. Mythische Figuren können in verschiedenen Geschichten auftauchen, auch als Randfiguren in solchen Geschichten, in denen sie nicht die eigentlichen Protagonisten darstellen. So entsteht eine kohärente und damit auch „glaubhafte" story world, die sich überdies nicht wesentlich, sondern nur durch den zeitlichen Abstand von der eigenen, „realen" Welt unterscheidet. Kapitel 5 („Characters") widmet sich den Spezifika mythischer Figuren, die sich nach Johnston vor allem dadurch von modern-vertrauten Figuren-Konzeptionen unterscheiden, dass sie nicht von einzelnen Autoren erschaffen wurden und keine „kanonische" Gestalt haben, sondern dass sie in verschiedenen Geschichten und in verschiedenen medialen Formen existieren und daher vielförmig erscheinen, durchaus mit Inkonsistenzen oder sogar Widersprüchen. Johnston nennt solche patchwork-Figuren „accretive characters"; als ein Beispiel wird Theseus näher beleuchtet. Je nach literarischer Gattung würden speziell bei Göttern entweder eher menschliche und damit auch „fehlerhafte" (Epen und Homerische Hymnen), oder eher theologisch „korrekte" Züge betont (Tragödien und Epinikien), wobei Feste in Heiligtümern die Glaubwürdigkeit von Mythen erhöhen und vice versa Mythen dazu beitragen würden, theologische Ansichten zu untermauern. Ein Abschnitt befasst sich mit Eigennamen mythischer Figuren, die in der Regel so aufgeladen seien, dass allein mit ihrer Nennung umfassende Assoziationsketten erzeugt würden. Die Kapitel 6 und 7 behandeln Eigenarten, die nach Ansicht der Autorin spezifisch griechisch sind: Metamorphosen- und Heroenmythen. Verstärkt kommen hier komparatistische Ausblicke auf Nachbarkulturen mit ins Spiel. Nach einem Exkurs zu mythischen Mischwesen wendet sich Johnston in Kapitel 6 („Metamorphoses") gegen die Auffassung, man könne einen Generalschlüssel für die Interpretation finden, der auf alle Metamorphosenmythen gleichermaßen anwendbar wäre.8 Solche Mythen würden ein ganzes Netz an verschiedenen Bezugs- und damit auch Deutungsmöglichkeiten eröffnen, was am Fallbeispiel der Arachne näher demonstriert wird. Gemeinsam sei allen Metamorphosenmythen, dass sie eher die negativen Seiten göttlicher Machtausübung gegenüber den Menschen thematisieren; sie würden aber auch hier funktional die „religious beliefs" stützen.9 In Kapitel 7 betont Johnston die sowohl quantitative wie qualitative Bedeutung von Heroen für die griechische Kultur, die sich sowohl in religiöser Verehrung wie in zahlreichen mythischen Stoffen niederschlägt, in denen nicht (wie meist in anderen Kulturen) Götter, sondern oft gerade Heroen die herausragenden Protagonisten darstellen. Erzählungen über Götter unterscheiden sich nach Johnston von solchen über Heroen dadurch, dass Göttergeschichten in der Regel in Form von Einzelepisoden zur Darstellung kommen, ohne dass diese Episoden durch einen übergreifenden erzählerischen (Spannungs-)Bogen zusammengehalten würden (die Autorin nennt diese Art des Erzählens „series"); Heroenmythen hingegen würden zwar einen solchen Bogen aufweisen (im Unterschied wird dies „serials" genannt), indem das Leben eines Heros von der Geburt bis zum Tod eine chronologische Abfolge in den Blick nimmt, doch sei der „Mittelteil" eines Heroenlebens ähnlich wie bei den Götter-Erzählungen episodenhaft und ohne chronologische Zwänge im Prinzip unendlich erweiterbar. Durch diese (und andere) Merkmale kommt nach Ansicht der Autorin die ambivalente Stellung der Heroen zwischen Göttern und „normalen" Menschen zum Ausdruck. Die Definition von „Heroen" wird bei Johnston bewusst weit gefasst (220, im Original kursiv): „humans who either are born with or acquire status and abilities beyond that of other humans, which they retain after death and can use to benefit the living humans who worship them". Später werden 10 Merkmale des „canonical Greek hero" zusammengetragen (239). Die Behandlung von Heroen als Monster-Tötern und ein Ausblick auf das Ende des Heroen-Zeitalters durch von Göttern herbeigeführte Katastrophen (Kriege, Flut) beschließen das Kapitel. In einem Epilog kommt Johnston neben der Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse nochmals auf die Wichtigkeit zu sprechen, die griechische Mythen für die Unterstützung des Glaubens der antiken Menschen hatten, aber auch für die Rekonstruktion und das Verständnis griechischer Religion aus wissenschaftlicher Außenperspektive haben. Nach dem Literaturverzeichnis und persönlich gehaltenen „Acknowledgements" wird das Buch durch zwei Indices abgerundet („Index of Names and Terms"; „Index Locorum"). Manche Kapitel-Teile greifen auf ältere, z. T. überarbeitete Publikationen der Autorin zurück.10 Das Buch zeigt, was Mythen können; es bietet keinen Überblick über die griechischen Mythen, es entwirft auch keine Mythostheorie (was Mythen sind). Das zeigt sich u. a. an dem von der Autorin verfolgten Theorien- und Methodenpluralismus (283). Mythen werden als „stories" (9) von Göttern und Heroen definiert, die sich auf spezifische Figuren beziehen, in einer fernen Vergangenheit spielen (hier bleiben dann eschatologische Mythen ausgeklammert) und an spezifische Örtlichkeiten gebunden sind (8 f). Unter anderem durch etliche Bezüge auf und Abbildungen von bildlichen Quellen wird deutlich, dass diese „stories" nicht mit Texten gleichzusetzen sind. Aber was ist eine „story"? Die Definition von Johnston, „narratives that are meant to entertain and engage as well as inform us" (10), ist eher eine Funktions-Angabe als eine Definition.11 Nicht haltbar aus mythostheoretischer Sicht ist der Versuch, allein dichterische Bearbeitungen von mythischen Stoffen als Mythen anzuerkennen, während bspw. von Mythographen „nur" zusammengefasste Mythen keine Mythen sein sollen (11).12 Dessen ungeachtet bietet das Buch zahlreiche glänzende Beobachtungen, von denen hier bei weitem nicht alle angeführt werden konnten. So wird Kapitel 5 den Phänomenen der Vielförmigkeit und auch der Vielschichtigkeit mythischer Figuren ausgezeichnet gerecht,13 und die Vorliebe der Griechen für Metamorphosen- und Heroenmythen wird gerade im Vergleich zu Mythologien anderer Kulturen besonders deutlich. Eine Stärke des Buchs liegt eindeutig in dem Vorstoß, Mythen als Ausdrucksformen und auch Verstärker religiösen Empfindens und Denkens ernst zu nehmen. In dieser Hinsicht wurden Mythen bislang unterschätzt: Das sollte nach diesem Vorstoß anders sein.
Notes:
1. Kirk, G.S., 1970, Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures, Berkeley/ Los Angeles; und 1974, The Nature of Greek Myths, London.
2. Zur Frage nach Funktionen von Mythen, differenziert nach Grundfunktionen, Metafunktionen und (primären und sekundären) Funktionalisierungen, s. Zgoll, C., 2019, Tractatus mythologicus. Theorie und Methodik zur Erforschung von Mythen als Grundlegung einer allgemeinen, transmedialen und komparatistischen Stoffwissenschaft, Mythological Studies 1, Berlin/ Boston (Open Access unter: https://doi.org/10.1515/9783110541588), 418-428.
3. Zur „Brisanz" von Mythen s. ausführlich Zgoll, C. (wie Fußnote 2), 370-447.
4. Unpraktisch für den fachlich interessierten Leser ist auch, dass die zahlreichen Verweise nicht unter dem Text, sondern im Anhang stehen.
5. In Anlehnung an Calame, C., 2015, Qu'est-ce que la mythologie grecque?, Paris; vgl. die Arbeit von Veyne, P., 1983, Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l'imagination constituante, Paris.
6. Trotz Ablehnung einseitiger Erklärungsmuster wie in der myth and ritual school wird für eine Mythenvariante der Geschwister Arachne und Phalanx später eine nahezu „klassische" myth and ritual-Interpretation gegeben (194-202). Am Ende von Kapitel 2 geht Johnston auf „Mythos" in der Poetik des Aristoteles ein und setzt dabei voraus, dass das dort verwendete Wort mythos etwas mit „Mythen" im Sinne von Götter- und Heroengeschichten zu tun hat. Wie neuerdings zu zeigen versucht wurde, ist das nicht der Fall; mythos ist dort ein gewissermaßen „narratologischer" terminus technicus für das Handlungsgerüst eines jeden (!) narrativ angelegten Erzählstoffes (s. Zgoll, C., wie Fußnote 2, 566-578).
7. Beim Vergleich mit modernen Buch- und Film-Serien, wie ihn Johnston zieht, fällt allerdings als Unterschied auf, dass die griechischen mythischen „Episoden" sich nicht so sehr mit Alltagsproblemen von jedermann befassen (berufliche und familiäre Angelegenheiten o. ä.), sondern mit einzelnen, herausragenden „Heldentaten" von Göttern oder Heroen: Bieten diese ähnliche Identifikationsangebote wie bspw. die von Johnston angeführte Fernsehserie Downton Abbey?
8. Wie Johnston, nur auf (griechische) Mythen insgesamt bezogen, s. etwa bereits Cassirer, E., 1925, Das mythische Denken, Darmstadt, 26, und dezidiert vor allem die Arbeiten von Kirk (s. Fußnote 1).
9. Einen umfassenden Überblick über griechische Metamorphosenmythen (über 370!) bietet Zgoll, C., 2004, Phänomenologie der Metamorphose. Verwandlungen und Verwandtes in der augusteischen Dichtung, Classica Monacensia 28, Tübingen, 329-344. Bei der Behandlung von Metamorphosenmythen wäre eine genauere Unterscheidung wichtig (s. ebd. 157-231, besonders 175-179 und 217-220) zwischen Metamorphosen im eigentlichen Sinn (irreversibler und dauernder, von Göttern bewirkter Wesens- und Gestaltwandel), Allophanien (reversible und temporäre Erscheinungen von Göttern in anderer Gestalt) und Verzauberungen (reversibler und meist temporärer, nicht das Wesen betreffender und mit Hilfsmitteln induzierter Gestaltwandel; für mehr Beispiele als bei Johnston, 214, Anm. 131, genannt s. ebd. 351). Zur „transformational hybridity" (181 mit Anm. 5): Neben den von Johnston angeführten Beispielen sind noch zu nennen: die Töchter des Acheloos (Hyg. fab. 141; Claud. rapt. Pros. 3,254-258); Midas und Cipus (Ov. met. 11,174-179; 15,565-569); die Ammen des Dionysos und die Söhne der Hyaden (Nonn. Dion. 14,143 ff); Teiresias (Eust. ad Hom. Od. 10,492); eine thebanische Bakchantin (Schol. Eur. Phoen. 45).
10. Teile der Kapitel 3 und 5, Kapitel 4 und die Interpretation zum Mythos von Arachne in Kapitel 6 (s. 348).
11. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Begriffen „story", „plot" und ihrer Abgrenzung zu einer medienunabhängigen Erzählstoff-Definition s. ausführlich Zgoll, C. (wie Fußnote 2), Kapitel 3-6 (42-134); zu einer entsprechenden stoffanalytischen Mythos-Definition ebd., 557-563.
12. Mythen bleiben Mythen, unabhängig von ihren jeweiligen medialen Präsentationsformen und egal ob man sie lang auserzählt oder kurz zusammenfasst, ob sie durch Vorträge lebendig gehalten werden oder in Schulbüchern verstauben; s. dazu Zgoll, C. (wie Fußnote 2), 25-41.
13. Ausführlich zur Polystratie (vgl. Johnstons Bezeichnung „accretive characters") und Polymorphie mythischer Figuren s. auch Zgoll, C., 2019 (wie Fußnote 2), 520-528. Allenfalls die Bezeichnung „plurimediality" sowohl als Bezeichnung für die Polymorphie mythischer Figuren als auch für das Phänomen der Transmedialität (27), also der Darstellung mythischer Figuren in verschiedenen medialen Konkretionsformen, erscheint etwas überfrachtet; vom Wort her passt „plurimediality" eher für das Zweite.
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