Reviewed by Thomas Gärtner, Institut für Altertumskunde, Universität Köln (Th-gaertner@gmx.de)
In einer Mainzer Dissertation aus dem Jahr 2014 wird ein ausführlich eingeleiteter wissenschaftlicher Kommentar zum 580 Hexameter umfassenden pseudo-homerischen Hermes-Hymnos vorgelegt, der sich naturgemäß vor allem mit dem 2013 erschienenen, auf Englisch verfassten, noch ausführlicheren Kommentar von A. Vergados (The Homeric Hymn to Hermes. Introduction, Text and Commentary, Berlin; Boston 2013) wird messen lassen müssen. Vergados´ Arbeit konnte von der Verf. zum Glück noch berücksichtigt werden. Die Einleitung gibt in sehr luzider Form eine Einführung in alle Aspekte der homerischen Hymnen. Thukydides betrachtet diese als „Prooemien" zu größeren rhapsodischen Darbietungen (18–22). Das Korpus dieser Hymnen entstand im Hellenismus (24–25), der Ares-Hymnos, welchen West Proklos zuschrieb, ist später (29). Die Anordnung im vorliegenden Korpus ist vor allem durch die Länge der Stücke bestimmt (die längeren zuerst, 29–30). Die Überlieferung bleibt trotz der pseudistischen Zuschreibung an Homer überschaubar (31); sie teilt sich in eine Leidener Handschrift M und einen verlorenen mittelalterlichen Archetypos Ψ. Zur Datierung des Hermes-Hymnos: Dieser ist das jüngste unter den Epyllien (33). Allen und andere Forscher setzten die längeren Hymnen in die letzte Phase der epischen Zeit, die kürzeren dagegen eher in die Klassik (35); ein wichtiges Diagnoseinstrument ist immer wieder die zunehmende prosodische Unwirksamkeit des Digamma (35). Janko datierte den Hermes-Hymnos ins 6. Jh. a., wohingegen die Verf. eher hellenistische Züge in der Sprache betont (36). Rein historisch angelegte Datierungsversuche werfen wenig belastbare Ergebnisse ab (37–39). Die Verf. erhärtet ihre These einer hellenistischen Provenienz des Hymnos mit folgenden, recht allgemeinen Argumenten: der Nähe der Darstellung des kindlichen Hermes zur Eros-Schilderung im dritten Buch der Argonautika des Apollonios von Rhodos und zum Herakliskos des Theokrit, dem stark aitiologischen Charakter des ganzen Hymnos und dem literarischen Charakter von Zitaten aus archaischer Dichtung als „Allusionen" (39–50). Die Hymnen werden eingeteilt in solche mit und solche ohne Narration (51–54) – was wenig über die Aufbauanalyse des Korpus (29–30) hinausgeht; als Epyllien gelten Hymnen mit aufwändig ausgeführtem narrativen Mittelteil (53). Besonderheiten des Hermes-Hymnos sind die humoristische Ausführung des Epyllions (54) sowie der „metapoetische Binnengesang" des Hermes zu der von ihm selbst erfundenen Lyra (54–55). Die Zuschreibung der Hymnen an Homer lässt sich bis auf Thukydides zurückverfolgen (57); seit Athenaeus existiert eine alternative Attribuierung an „einen Homeriden" (58). Grundsätzlich lässt sich eine Zuschreibung an Homer auch als „Qualitätssigel" für homerisierende Texte verstehen (60–61); schließlich werden die Übernahmen aus Homer und Hesiod untersucht (61–63). Ein stoffgeschichtliches Kapitel untersucht die Motivik der Rinderrauberzählung (65–71), besonders im Vergleich mit Hermes´ frecher Tat in den Ichneutai des Sophokles (69–70) und bei Apollodor (70–71). Das letzte Kapitel der Einleitung befasst sich mit den verschiedenen Facetten der Hermesfigur, nämlich als Erfinder (73–75), als Dieb und Magier (75–76), als Redner (77–78) und als komische Figur (78–80). Deutlicher herausgestellt werden sollte, dass die Erfindung der Lyra in der Struktur des Hymnos dem Rinderraub eindeutig untergeordnet ist: Hermes verlässt seine Wiege (V. 22 f.) ausdrücklich mit dem Ziel, die Rinder Apolls zu rauben, und begegnet danach rein zufällig einer Schildkröte, deren Panzer er zur Lyra verarbeitet. Der kleine Hermes wird also mit voller Absicht Rinderdieb, seine Erfindungsgabe entwickelt sich dagegen eher beiläufig und zufällig. Einige Bemerkungen zum Kommentar und zu den in diesem berührten Fragen der Textgestaltung: Die zu V. 11 f. angedeutete Möglichkeit einer Binneninterpolation erschließt sich dem Rez. nicht ganz, da nicht deutlich gesagt wird, welches Textsegment entfernt werden soll. Grundsätzlich sinnvoll erscheint es, mit der Verf. V. 11 als Teil des ὅτε-Satzes (10) aufzufassen. Auch ihre Erklärung, εἴς τε φόως ἄγαγεν (12) auf das planende Walten des Vaters Zeus (und nicht auf die Niederkunft der Mutter Maia) zu beziehen, ist nachvollziehbar begründet und ermöglicht es, die Ausdrücke εἴς τε φόως ἄγαγεν (12) und καὶ τότ' ἐγείνατο παῖδα ohne Pleonasmus oder gar Interpolationsverdacht nebeneinander zu verstehen. V. 14: ἡγήτορ' ὀνείρων als Attribut des Hermes wird materialreich gegen Gemolls ἡγήτορα φωρῶν verteidigt. Wenn in V. 33 ἕσσο (Matthiae) zugunsten des überlieferten ἐσσὶ verworfen wird, so erscheint mir doch τόδε zu dem gemäß dem Kommentar auf die Schildkröte zu beziehenden Prädikatsnomen καλὸν ἄθυρμα recht schlecht zu passen. Vergados interpungiert ganz anders: πόθεν τόδε, καλὸν ἄθυρμα;/ αἰόλον ὄστρακόν ἐσσι, χέλυς ὄρεσι ζώουσα. Auch dies ist wohl kein Fortschritt gegenüber dem leichten Eingriff von Matthiae. Richtig West: „Where did you get this fine plaything, this blotchy shell that you wear (ἕσσο) … ?". In Vv. 57–61 singt Hermes zur neuerfundenen Leier von der heimlichen Verbindung seiner Eltern Zeus und Maia und der kyllenischen Grotte, in welcher sich diese vollzog. Dieses sehr spezielle Gesangsthema eines musizierenden Knaben dürfte nach der Meinung des Rezensenten in der statianischen Achilleis nachwirken, wo Achill, ebenfalls zur Leier (chelyn I 186) singend, seinen Vortrag mit der Hochzeit zwischen Peleus und Thetis im thessalischen Pelion–übrigens ebenfalls in einer Grotte (I 106–108) – abschließt (I 193–194). Hermes besingt in diesem „Miniaturhymnus" seine eigene Göttlichkeit, Achill dagegen berührt gerade das seine Mutter umtreibende Motiv der – durch ihre Hochzeit mit dem sterblichen Peleus – verpassten Göttlichkeit des Nachfahren. Statius offenbart geradezu den Hermes-Hymnos als sein Vorbild, indem er Chiron berichten lässt, dass sich Achill von den Kentauren durch ähnliche Viehdiebstähle ebenfalls Drohungen zugezogen hat (I 152–155) wie Hermes von Apoll. V. 86: Die Herstellung des Infinitivs αὐτοτροπῆσαι (mit Zs. Adorjáni, Der Gott der Diebe?, Bemerkungen zum homerischen Hermes-Hymnos, Hermes 139, 2011, 131–146, hier 132–136) erscheint ansprechend (man versteht nicht, warum mehrfach die falsch akzentuierte Form αὐτοτροπήσαι begegnet – an die Herstellung eines solchen Optativs ist ja nicht zu denken); allerdings sollte man δολιχὴν ὁδόν nicht als Accusativus graecus mit αὐτοτροπῆσαι verbinden, sondern–mit Adorjáni l.c. 135 – als Objekt: „dem langen Weg eine originell-eigenartige Wendung … geben". V. 93: ὅτε μή τι nach Radermacher im Sinne von elliptischem εἰ δὲ μή γε zu verstehen (die erste Alternative im Kommentar) geht schon wegen des Fehlens einer Anschlußpartikel δέ nicht an. Man wird in Richtung der zweiten im Kommentar erwogenen Alternative verstehen müssen „wenn Du nicht in Bezug auf Deinen eigenen Besitz geschädigt wirst (sc. sondern nur den Verlust Apolls mitansehen musst)." In Vv. 156–158 (νῦν σε μάλ' οἴω/ ἦ τάχ' ἀμήχανα δεσμὰ περὶ πλευρῇσιν ἔχοντα/ Λητοΐδου ὑπὸ χερσὶ διὲκ προθύροιο περήσειν) wird richtig die Ψ-Variante ἦ τάχ' aufgenommen. Ob man dann aber in V. 159 (ἤ σε φέροντα μεταξὺ κατ' ἄγκεα φηλητεύσειν) ἤ als „eher denn" verstehen darf, scheint zweifelhaft, insofern ἤ i.q. potius quam gemäß LSJ s.v. B 1 (Vergados ad loc.) auf Verben des Begehrens, vor allem βούλομαι, beschränkt scheint (so auch an der im Kommentar angeführten Parallelstelle hymn. Apoll. 264–266). Der Gedanke, dass Hermes zukünftig (wenn er von Apoll verhaftet worden ist) nicht mehr plündernd in Bergschluchten umherziehen wird, scheint mir jedoch passend, passender als die nach M.L.West (Homeric Hymns. Homeric Apocrypha. Lives of Homer, Cambridge/ London 2003) disjunktiv angeschlossene Alternative, Hermes könne den ihn tragenden Apoll zu Fall bringen („or else you´ll give him the slip when he´s in the middle of carrying you through the glens"), die der besorgten Mutter kaum in den Sinn kommen wird. Da das Personalpronomen σε schon vor μάλ' οἴω steht, könnte man über eine Änderung von ἤ σε in μηδὲ nachdenken (in homerischer Sprache auch ohne vorausgehende Negation, vgl. LSJ s.v. οὐδέ A II 1). Zusätzlich muß man wohl mit Càssola (und Vergados) μέταζε statt μεταξύ herstellen, da μεταξύ den erforderlichen Sinn „danach (sc. nach erfolgter Verhaftung)" erst im Septuaginta-Griechisch haben kann (LSJ s.v. I 2 b). V. 167: Das von der Verf. zugunsten von ὀλβιέων (van Herwerden) verworfene βουκολέων (Ludwich) statt überliefertem βουλεύων ist die paläographisch wie inhaltlich haushoch überlegene Textverbesserung, insofern Hermes witzigerweise den Gedanken „mich und meine Mutter umsorgen" (inhaltlich besteht seine „Versorgungsmethode" in dem hinterlistigen Rinderdiebstahl) gerade durch eine auf das Hüten von Rindern bezügliche Metaphorik ausgedrückt wird, vgl. LSJ s.v. βουκολέω I 2, dort Arist. Vesp. 10 βουκολεῖς Σαβάζιον „you tend, serve him (with allusion to his tauriform worship)". In V. 315 wird zurecht mit den meisten modernen Herausgebern φωνῶν (Wolf) für das überlieferte φωνήν aufgenommen. V. 379: ὣς ὄλβιος εἴην tatsächlich „so wäre ich ja reich"? Nicht doch eher optativ („so may I prosper" West, Richardson, Vergados), was doch viel besser zum beteuernden Charakter der Apologie passen würde? In V. 385 das am Versanfang überlieferte καί beizubehalten und die sachlich erforderte Negation aus der eidlichen Beteuerung im vorigen Vers (οὐ μὰ τάδ' ἀθανάτων εὐκόσμητα προθύραια) zu entnehmen, scheint kaum möglich. Diese Beteuerung wird ja eingeleitet durch V. 383 μέγαν δ' †ἐπιδαίομαι† ὅρκον (am ehesten ἐπιδώσομαι Barnes) und bezieht sich noch auf die Schuldfrage (Vv. 382 f. οἶσθα καὶ αὐτὸς/ ὡς οὐκ αἴτιός εἰμι). Die Versicherung, dass Hermes auch trotz der Stärke Apolls nicht für einen (vorgeblich nicht begangenen) Diebstahl büßen wird, muß mit einer neuerlichen Verneinung (nach einer starken Interpunktion am Ende von V. 384) eingeführt werden; West schreibt μή am Versanfang, Ilgen οὐ, aber am passendsten erschiene ein „und auch nicht" (κοὐ cf. Hymn. Cereris 227), was dann unter dem Einfluß von καί am Anfang des nächsten Verses leicht verschrieben werden konnte. In dem so konstituierten Vers κοὔποτ' ἐγὼ τούτῳ τίσω ποτὶ νηλέα φωρήν sollte man ποτί (um nicht gemäß der Ψ-Variante ein erneutes ποτέ aufnehmen zu müssen) im Sinne eines adverbialen πρός („zudem") verstehen (die Verf. nimmt eine Tmesis an, aber προστίνω ist nirgends belegt): „Und ich (bin nicht nur unschuldig, sondern) werde zudem auch niemals Apoll, trotz seiner Stärke, einen rücksichtslosen Diebstahl abbüßen". πρός in diesem adverbialen Sinne ist in nachhomerischer Sprache auch ohne δέ möglich (vgl. LSJ s.v. D). Vergados´ Erklärung der Überlieferung „and some day I shall pay him back for …" geht schon deshalb nicht an, weil damit Hermes in Gegenwart der Götter einen Diebstahl zugeben würde. 460 f.: Wenn das überlieferte ἦ μὲν ἐγώ σε/ κυδρὸν ἐν ἀθανάτοισι καὶ ὄλβιον ἡγεμονεύσω richtig ist (Vergados schreibt mit Agar ἡγεμόν' ἕσσω), so hilft es kaum, den ungewöhnlichen Akkusativ als Accusativus Graecus zu erklären („Ich werde in Bezug auf Dich, den ruhmvollen unter den Unsterblichen und glücklichen, als Führer fungieren"). Auch „introduce" (West mit Fragezeichen und Richardson mit der Einschränkung „possibly corrupt") kann nicht gemeint sein, da sich Hermes ja schon zuvor gemeinsam mit Apoll in der Götterversammlung durch eine Rede vorgestellt hat. Allenfalls wird man vielleicht in Analogie zu ὁδὸν ἡγεμονεύειν verstehen können „ich werde Deinem Ruhm und Reichtum unter den Unsterblichen den Weg bereiten". V. 568: Die im Kommentar erwogene Umschreibung von ἵππους τ' ἀμφιπόλευε καὶ ἡμιόνους ταλαεργοὺς zu ἀμφιπολεῖν ἵπποις τε καὶ ἡμιόνοις ταλαεργοῖς scheint mir etwas gewaltsam, zumal sich die Aufforderung „Umwalte Pferde und lasttragende Halbesel!" eng an die Schenkung der gestohlenen Rinder (567) anschließt und in Vv. 569–571 die Herrschaft über alle Tiere (nicht nur über die zahmen) als etwas wiederum Neues hinzutritt. Die Härte, die ungewöhnlich gesetzte Präposition ἐπί neben ἀνάσσειν (V. 571) mit Vergados auch auf die beiden vorausgehenden Verse beziehen zu müssen, wird man viel leichter mit Ludwichs schonender Abänderung von ἐπὶ in ἔτι glätten (erwogen im Kommentar). Der Kommentar wird sich in der Forschung als Alternativinstrument zu Vergados' Arbeit etablieren, welche den kommentierten Hymus eher im Kontext archaischer Lyrik belässt und betrachtet (vgl. Vengados 40 ff.), während hier hellenistische Züge betont werden; das ganze Buch ist sprachlich mit großer Sorgfalt gearbeitet (Versehen sehr selten, etwa S. 17 τὼν statt τῶν in der dritten Zeile des Zitats aus Plat. resp. 606 e–607 a und S. 216, Zeile 1 ἐκ χειρὼν statt ἐκ χειρῶν). Allerdings ist es ein wenig ärgerlich, dass dem Kommentar nicht ein kritischer Text (oder zumindest ein Lesetext) mit deutscher Übersetzung beigegeben ist, der das Buch auch ohne eine zusätzliche Ausgabe benutzbar machen und dem Leser verdeutlichen würde, wie die Verf. den Text in jedem einzelnen Fall deutet – der zu leistende Aufwand wäre in Anbetracht der ergebnisreichen Kommentierung sicherlich vertretbar gewesen. Vielleicht hat sich die Verf. dagegen entschieden, weil ihr bereits Vergados mit einem eigenen kritischen Text (samt ausführlichen Similienapparaten aus vorgängiger wie nachfolgender griechischer Dichtung) zuvorgekommen ist. So wird man sich jetzt, wenn man eine moderne deutsche Übersetzung des Hermes-Hymnos sucht, mit der nicht fehlerfreien zweisprachigen Ausgabe von Ludwig Bernays (Homerische Hymnen, Darmstadt 2017) behelfen müssen.
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