Reviewed by Johannes Engels, Universität zu Köln; Universität Bonn (johannes.engels@uni-koeln.de; engelsj@uni-bonn.de)
Die 20. Rede des Demosthenes Gegen Leptines gehört zu den durch zwei jüngere umfangreiche Kommentare und andere Studien derzeit am Besten erläuterten Gerichtsreden des Demosthenes. Während sich Christos Kremmydas' Kommentar von 20121 vor allem durch kenntnisreiche sprachlich-stilistische und rhetorische Erläuterungen auszeichnet, konzentriert sich Mirko Canevaro im vorliegenden italienischen Kommentar2 auf Erläuterungen zu dem politischen und gerichtlichen System der athenischen Demokratie des 4. Jh., dem legislativen Prozesses und dem Zusammenhang zwischen bestimmten Prozeßformen (graphai) und dem für das 4. Jh. typischen nomothesia-Verfahren, dem Wechselspiel zwischen Euergetismus und reziproken öffentlichen Formen von Ehrungen durch die Polis sowie der politischen Ideologie des spätklassischen Athen nach 355 v. Chr. Das zu besprechende Buch gliedert sich in drei große Teile, 1. Eine substantielle Einleitung (1-105), 2. der Abdruck des griechischen Textes nach Dilts OCT (zu Abweichungen hiervon siehe 103-105) mit italienischer Übersetzung (107-173) sowie 3. den Kommentar (175-431). Das Buch schließt mit einer ausführlichen, erfreulich aktuellen Bibliographie (433-485, Canevaro wertet die einschlägige Fachliteratur systematisch bis Ende 2015 aus) sowie einem index locorum und einem index generale (486-529). Die Datierung der Rede in das Archontat des Kallistratos 355/54 etwas über ein Jahr nach der Verabschiedung des inkriminierten Gesetzes des Leptines 356/55 v. Chr. und kurz vor der ersten überlieferten Demegorie des Demosthenes (der Symmorien-Rede or. 14) ist gesichert. Die 20. Rede betrifft eine öffentliche Schriftklage, eine graphe nomon me epitedeion theinai, mit dem Ziel der Abschaffung eines Gesetzes des Leptines über die Aufhebung bestimmter ateleia-Befreiungen von Liturgien für Athener und auswärtige Wohltäter der Polis. Diese Klage ist Teil eines nomothesia-Verfahrens zur Verabschiedung eines neuen Gesetzes in dieser Materie. Canevaro erläutert zunächst Details dieser Verfahrensform (graphe nomon me epitedeion theinai) und ihren Zusammenhang mit dem für die Legislative zentralen, nach 403 neu eingeführten System der nomothesia (12-32). Canevaro rekonstruiert plausibel den juristisch-technischen Ablauf des Verfahrens (31-32) und legt abweichend von anderen Erklärern zu Recht Wert darauf, daß diese graphe gegen Leptines ein regulärer Bestandteil des komplizierten Nomothesieverfahrens war. Zunächst mußte nach einer erfolgreichen graphe das bestehende Gesetz durch ein Gerichtsurteil abgeschafft werden, bevor die Nomotheten das neue Gesetz promulgieren konnten. Das neue Gesetz trat nämlich nicht automatisch schon mit der Abschaffung des alten Gesetzes in Kraft. Über die beteiligten Hauptpersonen (33-36) haben wir unterschiedlich verläßliche Informationen. Leptines zählte in den 360 und 350er Jahren zu den wichtigen aktiven Rhetoren Athens. Zu den fünf syndikoi zur Verteidigung des Gesetzes gehörten einflußreiche Rhetoren der 350er Jahre, insb. Leodamas, Aristophon von Azenia und Kephisodotos. Im Ankläger-Team fanden sich weniger bekannte Bürger, Apsephion, der Sohn des Batippos, Ktesippos der Sohn des Chabrias, ein Phormion sowie vor allem Demosthenes. Über die Kenntnis der Hintergründe dieses Falles hinaus sind die konzisen Einführungen Canevaros in das athenische System der Liturgien nützlich (47-54). Die athenische Politik nach 355 unter dem Eindruck der Niederlage im Bundesgenossenkrieges wird heute von den meisten Historikern—so auch Canevaro—als deutlich komplizierter strukturiert verstanden als in älteren Studien, in denen man (anachronistisch) klar voneinander abgetrennte "Parteiungen" um Eubulos, Aristophon und Androtion mit jeweiligen innen- und außenpolitischen "Programmen" unterschied. Es fehlen aber hinreichende Beweise dafür, daß das Gesetz des Leptines auf eine konkrete Initiative der Rhetoren um Aristophon zurückging. Nach 355 war eine Politik der inneren Konsolidierung Athens, der das Gesetz dienen sollte, alternativlos und wurde von einer breiten Mehrheit der Rhetoren getragen. Zweck des Gesetzes des Leptines war es, durch die Abschaffung bisher verliehener ateleia-Befreiungen von kostspieligen regelmäßigen Leiturgien (außer den Trierarchien) und das Verbot zukünftiger solcher Befreiungen dem Mangel an Leiturgiepflichtigen in der Polis abzuhelfen und reiche Bürger in die Pflicht zu nehmen. Canevaro versucht (58) eine Rekonstruktion des Wortlautes des Gesetzes des Leptines. Die Reformversuche des Periandros 357 und des Demosthenes in den 350er Jahren deuten jedenfalls darauf hin, daß das bestehende System der Leiturgien sich in einer strukturellen Krise befand. Demosthenes spielte im Anklägerteam als synegoros trotz seiner Jugend eine Schlüsselrolle. Dies ist schon aus der auffälligen Länge seiner Rede ersichtlich, die erst an dritter Stelle nach denen Apsephions und Phormions vorgetragen wurde. Die Beschreibung der politischen Position des Demosthenes um 355 am Anfang seines öffentlichen Auftretens ist in der Forschung umstritten. Sein großes Thema des Kampfes für Athens führende Stellung in Hellas und gegen die expansive Politik Philipps II. hatte Demosthenes ja noch nicht gefunden. Weder der Kern des Gesetzes des Leptines noch der Einsatz für die Anklage gegen Leptines durch Demosthenes können simplifizierend als eine elitenfreundliche oder elitenfeindliche politische Initiative erklärt werden (Canevaro 67). Vielleicht dominierten bei Demosthenes damals pragmatisch-utilitaristische Motive und der Wunsch, sich durch Auftritte vor Gericht in öffentlich beachteten Verfahren bzw. vor der Ekklesia als Mitglied der Elite der rhetores kai strategoi zu etablieren (67-69). Eine solche Motivation rechtfertigt jedoch nicht die hyperkritische und simplifizierende Einschätzung des jungen Demosthenes als radikalem Opportunisten und Autopromotor. Der Kern der Argumentation des Demosthenes in dieser Rede (71-76) zielt darauf, mittels zahlreicher Beispiele aufzuzeigen, daß das Gesetz des Leptines gegen ältere ehrwürdige athenische Gesetze und Grundregeln (z.B. die Gültigkeit einmal vom Demos gewährter Ehrungen oder die Freiheit des souveränen Volkes, solche Ehrungen zu beschließen) verstoße. Zudem untergrabe das Gesetz des Leptines den bewährten Zusammenhang zwischen dem erwünschten und unverzichtbaren Euergetismus durch Mitbürger, Metoiken und Ausländer einerseits und dem reziproken öffentlichen Dank der Polis andererseits. Das Kapitel Canevaros über Euergetismus und die reziproke Ökonomie der Ehrungen (77-97) gibt über den Fall hinaus eine wertvolle Einführung in einen zentralen Aspekt der athenischen und allgemein der griechischen Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Demosthenes scheut nicht vor starken rhetorischen Übertreibungen zurück. Er differenziert nicht zwischen Ehrungen, die durch das Gesetz des Leptines gar nicht tangiert waren, und den negativen Konsequenzen der Abschaffung der Befreiung bestimmter Personen von regelmäßigen Liturgien. Diese Demosthenesrede weist nachdrücklich auf die sich nach 355 verstärkende Abhängigkeit von athenischen und auswärtigen Euergeten hin, ein Krisensymptom der spätklassischen athenischen Demokratie. Bereits in der Antike wird der Sieg des Anklägerteams ausdrücklich berichtet. Zweifel daran sind nicht begründet. Außerdem bestätigen mindestens zwei Inschriften, daß noch nach 355 weitere ateleia-Verleihungen in Athen stattgefunden haben (98-100). Dies setzt eine Aufhebung des Gesetzes des Leptines voraus. Canevaros Übersetzung in elegantem Italienisch versucht, die Rede flüssig lesbar zu übertragen, ohne dabei allzu frei vom griechischen Original abzuweichen.3 Ich kann hier nicht ausführlich auf (wenige) Einzelstellen eingehen, an denen mir andere Übersetzungen besser gefallen hätten.4 Canevaros italienische Übersetzung kann meines Erachtens den beiden modernen englischen Übersetzungen von Harris und Kremmydas gleichwertig an die Seite gestellt werden. Canevaro faßt vor den Kommentaren jeweils den Inhalt mehrerer Paragraphen paraphrasierend zusammen und erläutert so nochmals seine Auffasung von der Feingliederung der Rede. Die Einzelkommentare zu den regelmäßigen und außerordentlichen Leiturgien sind gründlich und verläßlich (Kap. 18-28). Mit den Erläuterungen zu dem langen Abschnitt über Leukon, den bosporanischen Herrscher, als Euergeten Athens (Kap. 29-40) beginnt der nächste große Abschnitt, eine lange "galleria di beneficiari delle esenzioni onorifiche" (241, Kap. 29-89). Leukon dient Demosthenes als erstes und wohl wichtigstes Beispiel eines durch das angeblich schlechte Gesetz des Leptines geschädigten einzelnen Euergeten, obwohl die Mehrzahl der Ehrungen und Privilegien Leukons von dem Gesetz gar nicht betroffen war. Die kenntnisreichen Kommentare Canevaros geben eine erste Einführung in Grundprobleme der athenischen Wirtschaftsgeschichte des 4. Jh., insb. die politisch-militärischen Zwänge aus den unverzichtbaren umfangreichen jährlichen Getreideimporten nach Athen. Das zweite Beispiel ist Epikerdes aus Kyrhene, welcher der Polis in extremen Notlagen nach der Niederlage in Sizilien und gegen Ende des Peloponnesischen Krieges half (Kap. 41-50). Danach erwähnt Demosthenes weitere kollektive Wohltäter aus der Periode des Korinthischen Krieges, die proathenischen Korinther, sowie athenerfreundliche Thasier und Byzantiner (Kap. 51-66). Philipp II. wird interessanterweise nur als ein lokaler Herrscher eingeführt (Kap. 61,3), der trotz seiner Eroberungen von Amphipolis, Pydna, Potideia und schließlich Methone zwischen 357 und 354 v. Chr. noch keinen sehr gefährlichen Gegner Athens darstellt (Canevaro 296-97). Kap. 67-87 wenden sich verdienten Feldherren Athens im 4. Jh. zu, die vom Demos außergewöhnliche Ehrungen und Befreiungen erhielten. Demosthenes beginnt mit Konon (304- 313), dessen Seesieg bei Knidos und die Wiederaufrichtung der Festungsmauern Athens als Leistungen hervorgehoben werden. Es folgt als beim Demos sehr beliebter Stratege Chabrias (313-328), der erst kürzlich in der Schlacht von Chios 357/6 v. Chr. verstorben war. Wertvolle prosopographisch-historische Kommentare bietet Canevaro auch zu Iphikrates (330-31) und Timotheos (331-32). Die Kap. 88-104 bringen präzise Kommentare zur Verfahrensform der nomothesia. Das Gesetz des Leptines widersprach nach Demosthenes mehreren wichtigen athenischen bestehenden Gesetzen sowie auch dem "Geist" der "Solonischen", also der guten alten athenischen Gesetze (339-341). Unter den Gesetzen, mit denen das Gesetz des Leptines kollidiere, sei ein Gesetz besonders wichtig (Kap. 96,2), nach dem alle Ehrungen und Vergünstigungen, die der Demos einmal vergeben hat, dauerhaft gültig bleiben sollen. Kap. 105-119 gehen proleptisch auf vermutete Argumente der Verteidiger des Gesetzes ein. So ist es für die ateleia- Regelungen in Athen nach Demosthenes irrelevant, wenn in anderen griechischen Staatswesen wie in Sparta oder Theben solche Privilegien und Befreiungen für einzelne Bürger unüblich sind. Kap. 120-130 wenden sich gegen die erwartete (sachlich korrekte) Verteidigung des Leptines, daß sein Gesetz lediglich bereits verliehene bestimmte Befreiungen aufhebe, keineswegs aber sämtliche bisherigen Ehrungen betreffe oder den Demos für alle Zukunft an Ehrungen hindere. Demosthenes verdreht hier offenbar die Argumentation des Leptines über Choregien und Opferfeste und das Problem der hieron analomata. Kap. 131-138 wenden sich gegen das erwartete Argument der Syndikoi, daß viele Unwürdige mit Ehrungen wie der proxenia oder ateleia geehrt worden seien, darunter sogar Kap. 131,1 douloi kai mastigiai, Sklaven und durch Auspeitschung bestrafte entlaufene Sklaven. Das Gesetz des Leptines füge Demosthenes zufolge zu einem großen materiellen Schaden für die Polis auch noch die allgemeine Schande in Griechenland hinzu. Er richtet daher einen Appell an die Richter (Kap. 139-145), wenn sie das Gesetz des Leptines nicht aufheben würden, würden sie bei den potentiellen Wohltätern der Polis und in ganz Hellas als phthoneroi, apistoi und acharistoi als "neidische, unzuverlässige und undankbare" Menschen verschrieen werden. Dies werde der Polis insb. in zukünftigen möglichen Krisenlagen materiell schwer schaden und auch in Hellas ihren guten Ruf zerstören. Danach greift er nochmals die stadtbekannten und angeblich rhetorisch versierten Syndikoi des Gesetzes an (Kap. 146-153). Ihre Mitwirkung an der Verteidigung eines solchen Gesetzes sei unehrenhaft, zudem schon formaljuristisch fehlerhaft, da jeder Bürger nur einmal als Syndikos zur Verteidigung eines Gesetzes auftreten könne. In der formalen peroratio der Rede (Kap. 163-167) endet Demosthenes mit einem pathetischen Aufruf an die Richter, die negativen Konsequenzen zu bedenken, wenn sie das Gesetz des Leptines nicht abschaffen und damit den Weg nicht freimachen sollten für ein Ersatzgesetz des Demosthenes und seiner Anhänger. Canevaros kenntnisreiche Kommentare, ebenso seine italienische Übersetzung der Rede und die ausführliche Einleitung, können allen Lesern nachdrücklich empfohlen werden, die sich für griechische Rhetorik, Demosthenes, athenische Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte interessieren.
Notes:
1. Commentary on Demosthenes' 'Against Leptines', Oxford 2012, mit Einleitung und englischer Übersetzung der Rede.
2. Vgl. Google Preview und siehe als wichtige monographische Vorstudie zu diesem großen Kommentar bereits Mirko Canevaro, The Documents in the Attic Orators: Laws and Decrees in the Public Speeches of the Demosthenic Corpus, Oxford 2013, ferner ders. "L'accusa contro Leptine: crisi economica e consensus post-bellico", Quaderni Rostagni 8 (2009), 117-141, "Nomothesia in Classical Athens: What Sources Should We Believe?", CQ 63 (2013), 139-160 und "The Procedure of Demosthenes' Against Leptines: How to Repeal (and Replace) an Existing Law", JHS 136 (2016), 39-58.
3. Der übersetzte griechische Text basiert auf Mervin Dilts, Demosthenis orationes II, Oxford 2005. Vgl. auch die derzeit führenden englischen Übersetzungen von Edward M. Harris, Demosthenes. Speeches 20-22, Austin 2008, und Christos Kremmydas 2012, welche die inzwischen veraltete populäre Übersetzung von James H. Vince, Demosthenes I, Loeb Classical Library, Cambridge Mass. - London 1930 (repr. 1989), ersetzen.
4. Hierfür nur ein Beispiel aus § 131: tines alloi douloi kai mastigiai = "e altri sono ladri e farabutti" (Canevaro). In seinem Kommentar (394-5) nimmt er selbst zur Problematik Stellung, doch douloi sollte hier meines Erachtens eben doch wörtlich mit Sklaven (statt "ladri") übersetzt werden; dies würde die provokative Kühnheit der Stelle unterstreichen, da Sklaven natürlich keinerlei öffentliche Ehrungen oder ateleia-Verleihungen erhalten konnten, vgl. bereits Vince, 1930 repr. 1989, p. 579: "Slaves and gaolbirds", also Sklaven und Galgenvögel.
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