Reviewed by Joachim Szidat, Riedholz (joachim.szidat@unifr.ch)
Ross erörtert die Darstellungsweise Ammians unter Rückgriff auf moderne literaturwissenschaftliche Betrachtungsweisen wie die Narratologie oder die Intertextualität.1 Er behandelt Ammians Werk als literarisches und nur indirekt als Quelle für den modernen Historiker. Methodisch folgt er Kellys Darlegungen zu Ammian.2 Ross übernimmt bisweilen dessen Argumentation im Detail, so z.B. bei der Erörterung der Teilnahme Ammians an den Ereignissen im Westen (S. 76-78), um dann zur eigenen Interpretation überzugehen (S. 79/80), die sich aber methodisch nicht grundlegend von der von Kelly unterscheidet. Ross will Ammians Werk unter drei Gesichtspunkten verstehen, nämlich erstens als solches der lateinischen Historiographie, zweitens als zeitlich letzten Beitrag eines Zeit- und teilweise Augenzeugen der geschilderten Ereignisse nach einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Diskussion über Julian, an der auch andere Zeit- und Augenzeugen teilnahmen, die Julian unterschiedlich nahestanden, und drittens als erzählenden Text, in dem das Gewicht und die Bedeutung des Erzählers eng mit dessen eigener Person verbunden sind (S. XI). Der Erzähler tritt dabei als außenstehender Berichterstatter auf, gelegentlich aber auch als Teilnehmer an den Ereignissen, über die er berichtet. Das Vorwort (Preface, S. V-XI) spricht von der Darstellungsweise und der Bedeutung Ammians für das Verständnis Julians, verweist auf die Bedeutung der Arbeiten Kellys für den Autor und legt auf S. XI die oben erwähnten Ziele des Buches dar. Dem Vorwort folgen der Dank an verschiedene Institutionen und Personen (S. XIII/XIV), das Inhaltsverzeichnis (S. XV/XVI) und eine Liste der Abkürzungen sowie Bemerkungen dazu (S. XVII). Es schließt sich das 1.Kap. an (In Search of the Latin Julian, S. 1-51), das vorwiegend methodischen Charakter hat. Es spricht von den historischen Darstellungen über Julian vor Ammian, über Erzählung und Geschichtsschreibung und über die Beziehung zwischen dem Text Ammians und dem narratee, vereinfacht gesagt dem Leser. Der Begriff narratee ist aber wesentlich komplexer und differenzierter. Es schließt mit einem Überblick über den Inhalt der folgenden Kapitel (Overview. S. 50/51). Ross unterstreicht dabei den Auswahlcharakter der von ihm erörterten historischen Ereignisse. Kap. 2 diskutiert das Verhältnis von Erzähler und Teilnehmer am Beispiel von Gallus' Sturz und Silvanus gescheiterter Usurpation (S.52-95), Kap. 3 handelt von Tradition und Erneuerung in Rede und Erzählung am Fall von Julians Erhebung zum Caesar (S. 96- 125) und Kap. 4 von der Legitimierung Julians am Beispiel der Schlacht von Straßburg (S. 126-161). Kap. 5 erörtert, wie man Scheitern darstellt, und spricht von Julians Perserzug und Ammians Teilnahme daran (S. 162-202). Es folgen ein Nachwort (Epilogue, S. 203-06) und ein Appendix. Das Nachwort faßt in gewisser Weise die Ergebnisse zusammen und macht auf Fragen aufmerksam, die nicht gelöst sind. Der Appendix beschäftigt sich mit dem Gebrauch des Griechischen in Ammians Res Gestae (The Res Gestae's Discourse on Greek, S. 207-18) und soll Ammian als verbindlichen (authoritative) Interpreten Julians erkennen lassen, den der Historiker als einzigen in den Res Gestae Griechisch sprechen läßt (S. 218).3 Julian zitiert Homer. Zur Bedeutung des Zitates im Rahmen der Darstellung Ammians vgl. S. 123-25. Anschließend folgt eine umfangreiche Bibliographie (S. 219-237), in der dem Ziel des Buches entsprechend historische Arbeiten etwas weniger berücksichtigt sind. Den Schluß bildet ein Index der erörterten Quellenstellen (Index locorum S. 239-47) und ein Index, der Personen, Sachen und geographische Namen umfaßt (S. 248-53). Die Bibliographie ist umfassend für die Themenstellung, und die meisten Bücher sind auch konsultiert worden. Es fehlen aber wichtige Arbeiten in deutscher und italienischer Sprache. So könnte der Bibliographie die Arbeit von Benedetti-Martig4 hinzugefügt werden, die zeigt, daß die öffentliche Diskussion über den Perserkrieg viel breiter war, als uns unsere Überlieferung und die klassische Quellenforschung glauben lassen, und die von Bitter, die sehr wichtig für die Schlachtbeschreibungen gerade unter literarischer Perspektive ist.5 Ross betont zu Recht, daß Ammians Werk eines der großen lateinischen Geschichtsschreibung sei. Dem Rezensenten ist dabei nicht ganz verständlich, warum Ross z.B. Nicomachus Flavianus' Annalen nicht auch als solche eingehender diskutiert. Zwar ist ungewiß, was ihr Umfang, Inhalt und Aufbau war, aber ein mindestens qualitativ bedeutender Teil der Forschung neigt der Auffassung zu, daß es sich um große Geschichtsschreibung handelt, was etwas schnell abgetan wird (S. 7;26). Der Rückgriff auf Amm. 25,10,5 (Kommentar Ammians zu Julians Begräbnisplatz )6 im Epilog (S. 203) unterstreicht z.B. problemloser die lateinische Tradition in Ammians Werk7 und ist zugleich ein Hinweis auf die distanzierte Haltung Ammians zum Christentum, was Ross entgangen zu sein scheint. Die Apostelkirche wird S. 203 als möglicher Begräbnisort Julians nicht erwähnt, obwohl er zur Familie Konstantins gehörte. Sie wird auch sonst bei Ammian niemals genannt. Das Verhältnis von Interkontextualität und Verwendung schriftlicher Quellen ist offensichtlich nirgends thematisiert. Das liegt einmal am Werk Ammians selbst, bei dem das Verhältnis von Quellengebrauch im klassischen Sinn (Rückgriff auf andere historische Darstellungen) und anderen Informationsquellen wie mündliche Mitteilungen, Autopsie oder Aufzeichnungen verschiedenster Art nur schwer greifbar ist. Bleckmann/Stein8 gehen z.B. davon aus, daß Ammian und Philostorgios bei der Schilderung des Schicksals des Caesars Gallus auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen (S. 276). Dieses ungeklärte Verhältnis liegt aber auch an der Methode von Ross. Sie verlangt bei der Intertextualität keinen Rückgriff auf die Quellenforschung, weil dabei nur die Besonderheit der Darstellung Ammians verloren gehen könnte. Im Fall von Philostorgios' Bericht zu Gallus spricht Ross bezeichnenderweise nicht von der möglichen gemeinsamen Quelle für Ammian und Philostorgios, sondern davon, daß Philostorgios der einzige Autor sei, der über Gallus' Herrschaft vergleichbar ausführlich wie Ammian berichtet (S. 79). Ross kennt aber durchaus die Ergebnisse der Quellenforschung (vgl. z.B. S. 129-131) und setzt sich auch wenn nötig mit ihr auseinander. Das Buch ermöglicht ein besseres Verständnis der Darstellung, die Ammian von Julian gibt, und von dessen Bedeutung im Werk des Historikers insgesamt. Es stellt weitere Mittel bereit, um die Glaubwürdigkeit einzelner Stellen und ihre Verwendbarkeit für den Historiker überprüfen zu können. So lassen die Darlegungen zu Amm. 31,7,16 die Technik und die Vorlagen erkennen, die der Beschreibung von Schlachtfeldern nach dem Kampf zugrunde liegen. Sie machen auch deutlich, daß diese Stelle nicht als Beleg dafür verwendet werden kann, daß Ammian auf einer Reise das Schlachtfeld von Adrianopel später in Augenschein nahm.9 Ross's Buch läßt vorwiegend die Auswahl der überlieferten Fakten, die Art ihrer Darstellung und ihre Bewertung durch Ammian besser verstehen und ist somit auch für den Historiker wichtig. Es ist aber überwiegend von Bedeutung für die literarische Gestaltung der Res gestae. Eine deutliche Abgrenzung zur Studie von Kelly ist schwierig und kann in dieser Rezension nicht geleistet werden. Sie müßte Gegenstand eines größeren Forschungsberichtes über beide Autoren sein. Ross geht an einigen Stellen auf sein Verhältnis zu Kelly ein (vgl. z.B. S. X/XI; S. 40-45 zu Amm. 31,7.16). Die englische Begrifflichkeit ist nicht einfach und erschwert den Zugang zu Ross's Text. Zu wenig scheint von Ross nach Meinung des Rezensenten oft bedacht zu sein, daß große Geschichtsschreibung natürlich Erzählung ist und in der Antike auf jeden Fall literarischen Charakter hat, aber der Erzähler, der Historiker, nicht frei ist, sondern an die Überlieferung gebunden. Sie bildet eine Basis, die die Freiheit des Erzählers begrenzt. Geht er zu frei mit der Überlieferung um, wird sein Text zu reiner Fiktion. Ross setzt sich z.B. S. 37/38 mit diesem Problem auseinander. Er betont dort den fiktiven Charakter der Historiographie etwa für die kausale Verknüpfung, was durchaus korrekt ist, aber nicht in jedem Fall stimmt. Eine in einem Text überlieferte kausale Verknüpfung kann z.B. auch eine offizielle Stellungnahme widerspiegeln und ist dann an eine Quelle gebunden.10 Ihre Umgestaltung wäre nur in einem historischen Roman möglich. Das Problem hätte eine vertiefte Auseinandersetzung verdient. Viele Beobachtungen sind auch ohne Rückgriff auf moderne literaturwissenschaftliche Theorien und Begriffe möglich und auch schon gemacht worden. So sind etwa moderne Autoren in der Regel durchaus bestrebt, Aufbau, Darstellungstechnik und inhaltliche Gewichtung im Werk Ammians erkennen zu lassen11 und verwenden Methoden der Intertextualität, auch wenn der Begriff und die theoretischen Überlegungen dazu nicht auftauchen.12 Man weiß in der Regel sehr gut, daß mit Quellenforschung allein dem Text Ammians wie auch anderen nicht beizukommen ist. Die Frage, ob die angewandte Methode Ergebnisse bringt, die für den Gebrauch Ammians als Quelle für den modernen Historiker über einzelne Stellen hinaus grundlegend und bedeutsam sind, bleibt für den Rezensenten offen.
Notes:
1. Ross definiert beide Begriffe und ihren Gebrauch durch ihn etwa auf S. 38/39.
2. Vgl. besonders G.Kelly, Ammianus Marcellinus. The Allusive Historian, Cambridge 2008.
3. Homer, Ilias 5,83; Amm.15,8,17.
4. I.Benedetti-Martig, Studi sulla guerra persiana nell'orazione funebre per Giuliano di Libanio. Firenze 1990 (vgl. auch Bern 1986). Es fehlen auch die italienischen Übersetzungen der Res Gestae von Selem und Sordi. Le Storie di Ammiano Marcellino, a cura di A.Selem, Turin 19732 (Text und Übersetzung) und Ammiano Marcellino. Le Storie, a cura di M.Caltabiano, Milano 1989 (nur Übersetzung). Die Ausgabe von Viansino (S. 220) enthält auch eine Übersetzung und einen Kommentar.
5. N.Bitter, Kampfschilderungen bei Ammianus Marcellinus, Bonn 1976. Vgl. zum Verhältnis zu Ammian etwa auch den Kommentar von E.Bliembach, Libanius' oratio 18. Kommentar, Würzburg 1976. Die neue, kommentierte Philostorgios' Ausgabe von Bleckmann und Stein ist wahrscheinlich zu spät erschienen, um noch berücksichtigt werden zu können (Philostorgios Kirchengeschichte, ediert, übers. und kommentiert von B.Bleckmann und M.Stein, 2 Bde. Paderborn 2015).
6. Vgl. dazu J.den Boeft/J.W.Drijvers/D.den Hengst/ H.C.Teitler, Philological and historical commentary on Ammianus Marcellinus XXV, Leiden/Boston 2005, 321-326; J.Szidat, Historischer Kommentar zu Ammianus Marcellinus, Buch XX - XXI, Teil 3: Die Konfrontation, Stuttgart 1996, besonders S. 238.
7. Vgl. z.B. auch S. 188.
8. Vgl Bleckmann/Stein S. 276 (n. 5).
9. So vermutet es etwa J.F.Matthews, The Roman Empire of Ammianus, London 1989,17, kritisch schon G.Sabbah, La méthode d'Ammien Marcellin. Recherches sur la construction du discours historique dans les Res gestae, Paris 1978, 282. Bei Ross's Erörterungen fehlen ein Hinweis auf HA v.Claud.8,5, der den topischen Charakter der Stelle noch deutlicher hervortreten läßt, und eine mögliche Bezugnahme auf Lib. or.24,2.
10. Vgl. z.B. Amm. 15,8,3.8.12 zum Motiv, Julian zum Caesar zu erheben. Ammian überliefert dafür Julians Verwandtschaft mit Constantius II., legt sie jedoch der Kaiserin Eusebia und Constantius II. in den Mund. Am offiziellen Charakter dieses Motivs ist aber nicht zu zweifeln.
11. Man vgl. z.B. die Arbeit von G.Sabbah (vgl. n.9). Er verweist z.B. schon auf die Beziehungen zwischen der Schlacht von Strasbourg und der von Adrianopel sowie auf die Rolle Amidas dabei (S. 471 und passim). Man muß Ross allerdings zu gute halten, daß die Auseinandersetzung mit Tacitus' oder Sallusts Beschreibungen inhaltlich vergleichbarer Szenen wie z.B. Schlachten sich bisher eher selten findet. Dieser Aspekt ist aber schon in einzelnen Arbeiten vorhanden. Er geht nur teilweise auf Kelly zurück. Man vgl. z.B. P.Riedl, Faktoren des historischen Prozesses: eine vergleichende Untersuchung zu Tacitus und Ammianus Marcellinus, München 2002 oder A.Bargagna, Ammiano lettore di Tacito. Percorsi di confronto intertestuale, tematico e compositivo, Studi classici e orientali 61, 2015, 335-350.
12. Ross spricht S. 39 ausdrücklich davon, wie Methoden der Intertextualität schon vor ihm für die Interpretation von Ammians Text verwendet wurden und setzt sich im folgenden damit auseinander. Das Verfahren findet sich schon in den Vorschriften der antiken Rhetorik, wenn auch vom Autor ausgehend. Es wird dazu geraten, auf Worte, Dinge (inhaltliche Elemente) und Personen bei anderen Autoren für das eigene Werk zurückzugreifen (Quint. instit.or. 10,2,26.27).
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