Reviewed by Martin Dreher, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (martin.dreher@ovgu.de)
Franco De Angelis (De A.) hat bereits eine Reihe von Publikationen zum antiken, insbesondere griechischen Sizilien vorgelegt. Am eingehendsten hat er sich, in einer 2003 erschienenen Monographie, den Städten Megara Hyblaia und Selinus gewidmet, dazu kommen zahlreiche Einzelstudien, bevorzugt zu ökonomischen Gesichtspunkten, und nicht zuletzt drei Literaturübersichten zu "Archaeology in Sicily", die den Gesamtzeitraum von 1996 bis 2010 abdecken. Das jetzt vorgelegte Buch basiert auf diesen früheren Arbeiten. Es fasst den gegenwärtigen Forschungsstand zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des griechischen Siziliens zusammen und bietet einen Überblick über diese Thematik für die archaische und klassische Zeit, das heißt gemäß der Einleitung (S. 1) vom Beginn der griechischen Besiedlung Siziliens im 8. Jh. bis "about 320 BC", wobei das erste Kapitel aber bis ins zweite Jahrtausend v. Chr. zurückgreift. Die folgende frühe hellenistische Zeit bis zum Beginn des Ersten Punischen Krieges schließt De Angelis aus seiner Betrachtung aus: "This is a period that has been well trodden in recent years, helped along by the more abundant epigraphic and literary sources, regarded by many scholars … as the `real stuff´ of history" (S. 1 Anm. 1). Diese leicht polemische Aussage deutet schon darauf hin, dass dem Autor die archäologischen Zeugnisse besonders am Herzen liegen. Das schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass er der archaischen Zeit, für die wir insgesamt mehr archäologische als schriftliche Zeugnisse besitzen, größeren Raum zumisst als dem 5. und besonders dem 4. Jahrhundert, in denen das Quellenverhältnis sich eher umgekehrt darstellt. Allerdings trägt zu diesem Ungleichgewicht auch bei, dass die sozialökonomischen Grundlagen in der Frühzeit geschaffen wurden, wie der Autor mehrfach bemerkt, und für die nachfolgende Zeit daher manches einfach als gleichbleibend übernommen werden kann und nicht wiederholt werden muss. Erstaunlicherweise sucht man in der Einleitung vergeblich nach einer Erläuterung, was der Autor unter "a social and economic history" versteht und wie er sie gegenüber anderen Zugriffen abgrenzt, zumal seine thematische Spezifizierung für das antike Sizilien ein Novum bedeutet. Aus wenigen Nebenbemerkungen (sowie dann aus der inhaltlichen Anlage der Studie) ergibt sich, dass De Angelis eine sehr umfassende Vorstellung zugrundelegt: "Any attempt to write a social and economic history of Archaic and Classical Greek Sicily has to bridge the disciplinary divides and to provide an account that will complement the numerous political, military, and culture histories, in order to establish, …, the integrated nature of all these histories" (S. 25). Konsequenterweise finden sich dann im Kapitel "Societies" Abschnitte zu "Constitutions and Citizenship" (S. 173. 204) mit dem Hinweis: "For constitutions and citizenship as a phenomenon of social history, see Weber 2003, 315" (S. 173, Anm. 220). Trotz der Autorität Max Webers, auf dessen Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" De Angelis Bezug nimmt, ist die Einbeziehung von Politik-, Militär- und Kulturgeschichte in altertumswissenschaftliche Standardwerke zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nicht selbstverständlich. Wie sich De Angelis seine integrierte Gesamtgeschichte und das genauere Verhältnis der einzelnen Themengebiete vorstellt, hätte durchaus eine nähere Erläuterung verdient. Unverständnis muss auslösen, dass das Inhaltsverzeichnis zwischen "Introduction" und "Conclusions" lediglich die Überschriften der vier Kapitel aufzählt, in die sich das Buch gliedert, nämlich "The Geographical and Historical Setting", "Settlement and Territory", "Societies" und "Economics", aber deren weitere durchaus vorhandene Untergliederung nicht wiedergibt. Diese Untergliederung besteht aus bis zu drei weiteren Ebenen, wobei die zweite Ebene nur die Kapitelüberschrift variiert. Während im ersten Kapitel der Zeitumfang "ca. 1200 – 600 BC" schon auf der zweiten Ebene angegeben wird, bildet eine vierfache chronologische Aufteilung die dritte Ebene in den Kapiteln zwei bis vier. Diese lautet (fast) wortgleich: "1. From Foundation to Political Centralization", "2. The First Generation of Political Centralization", "3. From the Collapse to the Return of Political Centralization", "4. Between Political Centralization and Independence". Hinter "Political Centralization" verbirgt sich schlicht die Zeit der Tyrannen, und zu diesem Begriff hätte terminologisch auch der personenbezogene Terminus "the First Generation" besser gepasst. Diese Form der thematischen Gesamtgliederung bedeutet also, dass in den Kapiteln zwei bis vier ein dreimaliger chronologischer Durchgang durch die sizilische Geschichte stattfindet. Obwohl der Autor natürlich versucht, den jeweiligen Aspekt, also das Territorium, die Gesellschaft und die Wirtschaft, in den Vordergrund zu stellen, kommt er um zahlreiche Wiederholungen nicht herum. Außerdem werden einige Zusammenhänge durch die thematische Trennung auseinandergerissen. Gerade wenn sich die verschiedenen Aspekte gegenseitig bedingen, ist eine solche Trennung besonders bedauerlich, zumal wenn eine entsprechende Bezugnahme erst im Nachhinein erfolgt. So wird z.B. über die territoriale Expansion der großen sizilischen Poleis in der ersten Phase der Tyrannis zunächst im zweiten Kapitel berichtet (S. 101ff.), was nicht ohne Erläuterungen über die die Expansion tragenden Tyrannen möglich ist. Die eigentliche Behandlung der Tyrannenherrschaften erfolgt dann aber im dritten Kapitel (S. 180ff.), wobei natürlich auch auf die territoriale Expansion hingewiesen werden muss. Und schließlich wird im vierten Kapitel der ökonomische Aufschwung und der damit zusammenhängende Wohlstand als ausdrückliche Bedingung für den Erfolg der expansiven Politik der Tyrannen angeführt (S. 272). Desungeachtet besticht das vorliegende Werk mit einer großen Zahl von methodischen Hinweisen, fundamentalen Befunden, nützlichen Berechnungen und wichtigen Beobachtungen, die im folgenden nur sehr selektiv gewürdigt werden können. Der überwiegende Teil der Einleitung stellt, gründlich und ausgewogen, die Forschungsgeschichte zum griechischen Sizilien dar. De Angelis geht sehr fair mit den früheren Autoren um, die er in die Strömungen ihrer jeweiligen Zeit einordnet. Er nennt die in seinen Augen positiven und negativen Elemente der bisherigen Forschung und macht deutlich, woran er selbst anzuknüpfen gedenkt. Das sei vor allem eine integrative Sichtweise, die der Autor in dreierlei Hinsicht umzusetzen gedenkt: Erstens will er Sizilien nicht isoliert betrachten, zweitens will er interdisziplinär vorgehen und vor allem Geschichte und Archäologie verbinden und drittens sollen nicht nur die Griechen, sondern alle sizilischen Bevölkerungselemente berücksichtigt werden, gerade in der vorgeschichtlichen Zeit. Das erste Kapitel legt die geographischen und historischen Gegebenheiten dar, die die Griechen bei ihrer Ansiedlung in Sizilien vorfanden. De Angelis betont, dass die Küsten der Insel nicht so dicht besiedelt und das Land nicht so extensiv bewirtschaftet gewesen seien, wie oft angenommen werde. Zusammen mit einer regen und zunächst meist friedlichen Interaktion mit der mehr im Inland lebenden einheimischen Bevölkerung sei dies eine günstige Bedingung für die erfolgreiche Gründung und Entwicklung der griechischen Siedlungen gewesen. Im zweiten Kapitel verfolgt der Autor die Entwicklung der griechischen Ansiedlungen und ihres Siedlungsraumes. Während der vier genannten Zeiträume, in die das Kapitel gegliedert ist, werden unter anderem die Stadtanlagen, die Heiligtümer, die öffentlichen Gebäude, die Stadtmauern und die privaten Häuser sowie die Okkupation des die Poleis umgebenden Landes analysiert. Von den Hafenanlagen ist seltsamerweise kaum die Rede, obwohl De Angelis der Seefahrt immer wieder große Bedeutung zumisst, nur der von Gelon angelegte neue Hafen von Syrakus wird nebenbei erwähnt (S. 103). Während die Größe der Territorien durch politische Veränderungen mehrfach verändert worden sei und die Phasen intensiver Bautätigkeit sich boomartig auf die jeweilige Mitte der Jahrhunderte konzentriert hätten, meint De Angelis einen relativ durchgängigen Wohlstand auch in vermeintlichen Krisenzeiten feststellen zu können. Wichtige Anhaltspunkte dafür sind die zum Teil aus früheren Studien übernommenen Berechnungen über die zum Bau der monumentalen Tempel benötigte Menge an Steinmaterial und Arbeitsstunden (S. 89f. für Selinus). Eine Tabelle über die teils bezeugte, teils geschätzte Größe der urbanen Siedlungen und ihres Territoriums ermöglicht einen übersichtlichen Vergleich (S. 96). Im dritten Kapitel über die Gesellschaften wendet sich De Angelis gegen die früher angenommenen hohen Bevölkerungszahlen. Es hätten kaum mehr als eine halbe Million Menschen in den griechischen Gebieten Siziliens gelebt. Die soziale Mobilität sei hoch gewesen. Von Anfang an habe es soziale Ungleichheit gegeben, und die Poleis seien überall oligarchisch regiert worden (das ist auch die Ansicht des Rezensenten). Skeptisch äußert sich der Autor bezüglich der meist angenommenen demokratischen Phase in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Sie sei "more interlude than democratic" gewesen (S. 322). Aber klare Definitionen der Regierungsformen legt er nicht zugrunde. Im vierten Kapitel, in dem die Überschriften der vierten Ebene überraschenderweise optisch anders gestaltet sind, will De Angelis die sizilische Wirtschaft nicht auf die landwirtschaftliche Produktion, insbesondere von Getreide, beschränken, sondern das gesamte Spektrum von Produktion, Konsumtion und Distribution erfassen. Natürlich muss auch De Angelis die klare Dominanz der Getreideproduktion einräumen, aber er verweist außerdem auf die Bedeutung von Fisch, Olivenöl und Wein, deren Produktion in Sizilien schon für die archaische Zeit nachgewiesen werden kann. Ebenso wie diese agrarischen Produkte seien auch mehr handwerkliche Erzeugnisse auf der Insel selbst hergestellt und nicht zu einem so großen Anteil, wie man früher angenommen hat, importiert worden. Die "Conclusions" bieten zunächst eine Zusammenfassung der bisherigen Darlegungen. In seinen Schlussworten bestätigt De Angelis dann im Kern die zitierte These von Edward Freeman, dass es die Griechen gewesen seien, die mehr als alle anderen Völker der Insel Sizilien ihren Stempel aufgedrückt hätten. Das Buch schließt mit dem Appell, die hier vorgenommene multidisziplinäre Forschungsarbeit weiterzuführen und dabei die herausragende Bedeutung der Archäologie gebührend zu berücksichtigen. Zum Werk insgesamt seien noch folgende kritische Anmerkungen gestattet: Erstens muss es gerade einen Althistoriker, der sich mit der Genese und dem Wesen der griechischen Polis befasst hat, also den Rezensenten, stören, wie sorglos De Angelis mit einschlägigen Begriffen vor allem aus dem politischen Bereich umgeht. In erster Linie ist hier der in der Forschung intensiv diskutierte Terminus des Staates zu nennen. Obwohl der Autor (zu Recht) einen Übergang von einem (ergo vorstaatlichen) in einen staatlichen Zustand der sizilischen Poleis annimmt, gibt er keinerlei Kriterien für diesen Übergang an. Seine dafür verwendete Formulierung "state formation", die also als `Staatsentstehung´ zu übersetzen wäre (S. 146, hier gleichgesetzt mit "transition to statehood"), verwendet er jedoch auch für alle zukünftigen Veränderungen des Staatswesens, so dass man sie dort als `Staatsentwicklung´ verstehen müsste (S. 174. 212). Ähnlich unbelastet verwendet der Autor so diffizile Begriffe wie "kingdom" (S. 129), "(moderate) democracy" (S. 131), "citizenship" (S. 178), "imperialism" (S. 100) und davon abgeleitete Wörter. Zweitens hätte, gerade bei der Auswertung der archäologischen (Grab-)Befunde mehr auf die Gender-Zuordnung geachtet werden können, die sich bei De Angelis auf eine dünne Bemerkung (S. 255) beschränkt. Drittens wird nicht immer deutlich, in welchem Umfang die vorgetragenen Aussagen auf vorhandenen Zeugnissen beruhen. Das gilt auch für die schon genannten Tabellen, welche "attested and hypothesized" Angaben ohne eine entsprechende Differenzierung zusammenstellen. Noch grundsätzlicher und schwerwiegender ist viertens, dass zwar immer wieder auf konkrete Quellenbelege verwiesen wird, aber diese Verweise sehr selektiv erfolgen und die Darstellung nicht durchgängig mit Quellenangaben versehen ist. Ganze Abschnitte sind allein aus der, allerdings umfangreich herangezogenen, modernen Literatur belegt. So ist der Nutzer auf diese Angaben verwiesen, um sich auch über viele und einschlägige literarische und epigraphische Zeugnisse zu informieren. Dementsprechend findet sich auch kein Quellenregister am Ende des Buches, hingegen ein Sach-Index und ein Literaturverzeichnis. Obwohl letzteres sehr umfangreich ausfällt, vermisst der Rezensent (der von seinen eigenen übergangenen Publikationen kein Aufhebens machen will) fünftens das hervorragende Werk von Suzanne Frey-Kupper, Die antiken Fundmünzen vom Monte Iato 1971-1990. Ein Beitrag zur Geldgeschichte Westsiziliens, 2 Bände, Prahins 2013 (Studia Ietina X 1 und 2); auch sind, offenbar versehentlich, die in einigen Anmerkungen genannten wirtschaftsgeschichtlichen Publikationen von Sitta von Reden nicht in dieses Verzeichnis aufgenommen worden. Die Abbildungen des Bandes sind differenziert zu beurteilen. Die Übersichtskarte von Sizilien, S. 3 ) ist zu klein und enthält viele der im Text genannten Orte nicht. Gut gelungen ist dagegen die Karte (S. 67), welche die territoriale Ausdehnung der griechischen Staaten zeigt. Ebenfalls sehr nützlich sind die Stadtpläne der griechischen Kolonien (S. 76 – 82). Für überflüssig, weil nichtssagend und beliebig, halte ich dagegen einige Aufnahmen von Landschaften (z.B. S. 72: Getreidefeld, S. 286: Olivenbäume) oder selbst fotografierten Tieren (z.B. S. 237: grasende Schafe). An ihrer Stelle wären weitere Abbildungen von Monumenten oder Artefakten sinnvoller gewesen. Trotz aller Einwände kann kein Zweifel daran bestehen, dass das vorliegende Buch das aktuelle Wissen über die soziale und ökonomische Geschichte des griechischen Sizilien in gut verständlicher Weise zusammenfasst, die Quellenlage klarstellt und Rechenschaft über die verwendeten Methoden und die Grenzen unseres Wissens ablegt. Es bildet einen wichtigen Markstein für die Erforschung des griechischen Sizilien.
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