Reviewed by Bernhard Smarczyk, Johannes Gutenberg Universität-Mainz (alt.smar@t-online.de)
Vorliegendes Buch, eine überarbeitete Dissertation aus Bari, hat das Ziel, mit einer präzisen Untersuchung der einschlägigen Quellen Person und Politik des Demagogen Kleon in den Kontext der athenischen Politik und Gesellschaft der zweiten Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. einzuordnen und auf dieser Grundlage seine Karriere zu beurteilen. Eine Klärung der Entstehungshintergründe für die vorherrschende negative Charakterisierung Kleons in unseren Hauptquellen, Aristophanes und Thukydides, und ihre gesellschaftliche Verortung sollen die Untersuchung Vittorio Salduttis von älteren Arbeiten verwandter Thematik abheben, um erneut „die Überlieferung dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen" (Walter Benjamin, zitiert S.5). Überdies geht es um eine Kritik an der Deutung Kleons als Protagonist eines neuen Typs von Politikern in der attischen Demokratie. Auf dieser Basis wird eine klarere Positionierung des ‚historischen' Kleon im Spektrum von Kontinuität und Neuerung in der athenischen Innen- und Außenpolitik angestrebt. Dieses Vorhaben ist komplex, da mit Kleons öffentlichem Wirken zahlreiche Ereignisse und Entwicklungen von ca. 450 an verknüpft waren, die Saldutti selbstredend nicht durchgehend nochmals eigenständig durchleuchten kann. Zunächst (S.15-68) werden die Sprache der athenischen Politik gegenüber den Demagogen und speziell gegenüber Kleon sowie dessen sozialer Hintergrund untersucht. Besonders die Komödie präsentierte ihn mit Eigenheiten, die literarischen Topoi entsprachen, welche der kritisch-herabsetzenden Auseinandersetzung mit Demagogen und anderen Politikern dienten. So wurde (auch) er u.a. als Abkömmling von Unfreien, ‚Paphlagonier', Barbar, als unfähig vernünftiges Attisch zu reden, als Person, die mit sozial diskreditierter Arbeit (eben nicht als Landbesitzer) ihr Auskommen fand, sowie als aggressiv-polternder Redner gezeichnet. Eine Prüfung der ökonomischen, familiären und kulturellen Verankerung Kleons kann derlei herabsetzende Anspielungen auf seinen Hintergrund und Charakter jedoch nicht rechtfertigen. Denn er stammte aus einer Bürgerfamilie mit Vermögen. Schon sein Vater Kleainetos, Angehöriger einer aufsteigenden Gesellschaftsgruppe aus den Sektoren Handwerk und Kommerz, gehörte zur „leiturgical class" und pflegte soziale Aktivitäten, die adeliger Wettkampfethik entsprachen. Ererbtes Vermögen, Freundschaften und Verwandtschaften, Instrumente, die von jeher politisches Agieren vornehmer Familien unterstützt hatten, erlaubten es Kleon politisch voranzukommen. Gegen andersartige genealogische Rekonstruktionen erschließt Saldutti Verwandtschaften und Verschwägerungen Kleons, die Verbindungen zu aristokratischen Kreisen nahelegen und u.a. seinen Schwiegersohn Tho(u)dippos einschlossen, den Antragsteller der ‚Kleonschatzung' von 425/24: D.h. der Demagoge nutzte im Rahmen der Demokratie traditionelle Mittel. Dazu passend kennt Aristophanes Kleon trotz aller kultureller Defizite doch auch als Teilnehmer an Symposien samt ihren bekannten aristokratischen Unterhaltungsformen wie der Darbietung populärer Lieder. Die Komödie verband Kleon ganz selbstverständlich mit solchen Kontexten und den entsprechenden Gesellschaftskreisen. Sie zeigte ihn gleichzeitig aber auch als Gegner kultureller Neuerungen in Athen in den Bereichen Religion, Theater und Rhetorik, die er als Gefahr für die Demokratie darstellte. Er gab sich als Konservativer, Verfechter der Tradition und Feind der Modernität. Das zweite Kapitel (S.69-114) vertieft die Untersuchung der Entstehung des Negativbildes Kleons weiter und erörtert die Anfänge seiner Politikerkarriere. Sie begann mit einer Beteiligung an den Prozessen gegen Anaxagoras und Perikles. Beim ersten nimmt Saldutti eine Zusammenarbeit Kleons mit konservativen, antiperikleischen Kreisen an und datiert ihn kurz vor 432/31. Dies macht Kleons Mitwirkung tatsächlich plausibler als eine Datierung in die frühen 430er Jahre. Die Annahme einer Kooperation mit konservativen Kreisen gegen die Neuerer um Perikles verknüpft freilich an sich widersprüchliche Quellen, die teils Kleon (Sotion), teils Thukydides Melesiou (Satyros) als Ankläger des Anaxagoras nennen. Auch die chronologische Unsicherheit lässt sich kaum ausräumen, zumal wenn man den Prozess gegen den Klazomenier zeitlich mit dem Megarischen Psephisma verknüpft, das eher in die erste Hälfte der 430er Jahre gehört.1 Im Prozess gegen Perikles verfocht Kleon 430/29 nach Saldutti eine härtere, offensivere Kriegspolitik, die stärker auf die Hopliten setzte, Sparta nicht nachgeben wollte und einen klaren Sieg anstrebte. Er agierte hierbei als Führer von Bürgergruppen, die sich mit dem Krieg gut arrangieren konnten. Daraus leitet Saldutti einen Bruch mit den antiperikleischen, konservativen Kreisen ab, mit denen Kleon bisher kooperiert hatte, die jetzt aber zum Frieden neigten. Auf diesen Moment bezieht er eine von Plutarch (mor. 806f-807a) hervorgehobene Zäsur: Demnach löste sich Kleon von seinen phíloi, seiner Hetairie, also von den bisherigen Befürwortern seiner politischen Aktivitäten – vielleicht zugleich als ostentative Absage an aristokratische Lebensformen inszeniert (?). Kleon zog nun eine direkte Assoziierung mit dem Demos vor, den er sich laut Plutarch zum Freunde gemacht hat. Dies erinnert auch dem Wortlaut nach (proshetairizein) an Kleisthenes (Hdt.5,66,2). Saldutti rekonstruiert, dass analog zum Jahre 508 gegen Ende der Lebenszeit des Perikles eine stásis-Situation entstanden ist. Er verbindet die Abwendung von seinen bisherigen Partnern in der Oberschicht plausibel mit dieser Krise und einer Agenda Kleons mit folgenden Schwerpunkten: Verschärfung des Krieges, strikte Kontrolle des Seebundes, bessere Versorgung der Bürger, u.a. durch Erhöhung der Richterdiäten, Stärkung des Gewichts der Dikasterien und Aufstieg zum prostátes des demos. Das Volksgericht wurde dabei, wie Saldutti mehrfach hervorhebt, von ihm stärker noch als die Volksversammlung als Ort politischer Auseinandersetzungen und zugleich als Schutzschild der Demokratie genutzt, ja in diesen Funktionen geradezu systematisiert. Kleons situationsbedingte und kalkulierte Abkehr von seinen bisherigen phíloi und die Hinwendung zu Demos stellte jedoch entgegen W.R.Connors2 Urteil keinen revolutionären Bruch mit den in Athen gängigen Modi des Politikmachens mittels Familienverbindungen und Hetairien dar. Saldutti tritt dieser These zu Recht entgegen, da die Verschwägerung mit Tho(u)dippos beweist, dass Kleon 425/24 weiterhin auf Familienbindungen setzte, und Aristophanes ihn 422 (Vesp.1219-1222) beim Symposion im Kreise von Hetairoi zeigt. Im nächsten Schritt weist er nach, dass gerade die „rottura con l'eteria" die heftigen Angriffe der Komödie gegen ihn ausgelöst hat: Die Demagogenkomödien stilisierten Kleon deshalb zum Gegensatz eines guten Bürgers, weil er seine bisherige Anbindung an die aristokratisch geprägte Elite aufgekündigt hatte und in politische Konfrontation zu ihr geraten war. Die Gestaltung der Komödienkritik an Kleon, die Saldutti einleuchtend entschlüsselt, griff das Vorbild der Anklagen auf, die einst Alkaios gegen Pittakos vorgebracht hatte. Analog zu den Invektiven gegen letzteren wurde Kleon als nichtaristokratischer, wort- und eidbrüchiger Verräter an seinen Freunden angeschwärzt. Erfunden haben die Komödiendichter diesen Gedanken freilich nicht: Er beruhte auf der Polemik aristokratischer Gegner Kleons, die den vormaligen Partner als dem Pittakos vergleichbaren, eidbrüchigen Verräter attackierten und dabei auf den bei ihnen populären Alkaios zurückgriffen. Der ‚Paphlagonier', der angeblich mit der Tyrannis liebäugelte, wurde überdies als pharmakós dargestellt. Die Polis war folglich nur durch die Austreibung ihres Verunreinigers zu befreien und zu retten. Kleons Negativimage resultierte also aus dem in (Symposien) der Oberschicht entstandenen Vorwurf, er sei ein Verräter, und dessen szenischer Umsetzung in der Komödie, die hierbei an ältere poetische Traditionen anknüpfte. Das dritte Kapitel (S.115-167) verfolgt in chronologischer und geographischer Anordnung Kleons Politik nach 429. Bekanntlich kritisierte Thukydides die Abwendung der ‚Nachfolger' des Perikles von dessen Kriegsstrategie. Dagegen und anders als die jüngste Monographie über Kleon von Philippe Lafargue,3 der die Kontinuität mit Perikles' politisch- strategischer Konzeption betonte, hebt Saldutti gerade die Abkehr von dieser als angemessene, innovative und Athen weiterführende Entscheidung Kleons hervor. Betreffs der Reichspolitik sieht er dessen Festhalten an der arché und die gesteigerte finanzielle Belastung der sýmmachoi als alternativlos an und bescheinigt Kleon, nicht zuletzt gegen abtrünnige Städte auf der Chalkidike, einen geradlinig harten Kurs gegenüber den Bundesgenossen. Kleon charakterisierte die arché als ‚Tyrannis' der Athener und folgerte daraus deren umfassende Handlungsfreiheit gegenüber den ‚Untertanen'. Bereits Perikles hatte den Tyrannis-Vergleich gebraucht, allerdings mit anderer rhetorischer und politischer Intention, was Saldutti unterschätzt. Er betrachtet Kleon zutreffend als Spiritus Rector eines verschärften Zugriffs auf die Bundesgenossen, der sich in zwei von Kleonymos beantragten Dekreten, der Neuveranlagung der phóroi von 425/24 sowie dem pséphisma des Kleinias und dem ‚Münzdekret' (ebenfalls beide in die 420er Jahre datiert!) manifestierte. Verständlicherweise werden diese viel diskutierten Inschriften und ihre teilweise umstrittene Datierung nicht eigens nochmals untersucht; doch vermisst man eine Erläuterung, wie weit die massive Tributerhöhung erfolgreich war und was sie für den Zusammenhalt des Seebundes bedeutet haben mag. Offen bleibt auch, wie Saldutti die mit den genannten Dekreten deutlich vorangetriebene organisatorische Verdichtung der Herrschaft Athens bewertet und ob dahinter ein umgreifendes Konzept Kleons stand. Überraschend ist ferner, dass das Verhältnis der im zweiten Dekret des Tho(u)dippos festgelegten Panathenäenteilnahme der sýmmachoi zu Kleons Bündnerpolitik unkommentiert bleibt. Insgesamt betrieb Kleon erst als amtloser Demagoge, dann als Stratege zwischen 427 und 424 eine konsequente Stabilisierungspolitik, die das Auskommen des Demos (Erhöhung des Richtersoldes, Getreideversorgung) und zuverlässige Einnahmen aus dem Seebund sicherte. Die Militärstrategie Kleons untersucht Saldutti zunächst mit Blick auf die „fronte continentale". Die durch die Blockierung, dann Gefangennahme der Spartaner auf Sphakteria eingetretene günstige Wendung des Krieges wollte Kleon dazu nutzen, von Sparta territoriale Positionen wiederzuerlangen, die Athen 446/45 eingebüßt hatte. Diese von Perikles' Konzeption abweichende Rückkehr zur Expansionspolitik der Jahrhundertmitte wertet Saldutti als energische Neuausrichtung, die auf Schwächen des perikleischen Kriegsplanes reagierte und den Dualismus der Hegemonialmächte zugunsten Athens beenden wollte. Doch scheint diskutabel, ob Kleon Sparta nicht unrealistisch viel abverlangte. Zudem wäre, um seine Ablehnung der spartanischen Friedensangebote profunde beurteilen zu können, eine intensivere Diskussion der Aussichten eines solchen Friedens angebracht gewesen, zumal ihm Thukydides und andere Athener einige Chancen eingeräumt haben. Anschließend wird die Ausweitung militärischer, politischer und diplomatischer Aktivitäten Athens in Richtung Megara, Boiotien und Argos ab 424 skizziert. Ziel dieser Politik sei es gewesen, Sparta gewissermaßen zu ‚umzingeln' bzw. zu isolieren. Auch wenn die Quellen dies nicht voll ausleuchten und Kleon im Zusammenhang der Boiotienpolitik gar nicht genannt wird, kann Saldutti plausibel machen, dass er diese Initiativen teils maßgeblich vorangetrieben, teils mindestens unterstützt hat. Quellenmäßig eher problematisch ist sein Versuch, Kleon auch eine westpolitische Konzeption zuzusprechen und zum Vorläufer der auf Magna Graecia gerichteten Expansionspolitik des Alkibiades zu erklären. Denn Kleon ist nirgends direkt mit der dortigen Intervention Athens zwischen 427 und 424 verbunden. Der von ihm angestrengte Prozess gegen den Strategen Laches lässt sich auch mit Konkurrenzverhalten motivieren, ohne eine neuartige Westpolitik Kleons vorauszusetzen, die offensivere Züge hatte als das u.a. von Laches geleitete Unternehmen. Saldutti vermutet, Kleon habe schon 427 einen größeren Flottenverband befürwortet und sei verantwortlich gewesen für die deutlichen Verstärkungen von 425. Akzeptiert man diese (nicht belegten) Annahmen und folgert, dass Kleon auch auf Trinakria den Krieg intensivieren wollte, so ist ihm freilich auch der Misserfolg dieses Projekts zuzurechnen. Denn der Frieden von Gela (424) beendete alsbald dieses Kapitel westpolitischer Bemühungen Athens. Dazu hätte aber just Kleon durch die Vergrößerung des athenischen Geschwaders beigetragen, da besonders sie es erlaubte, den Athenern ‚imperialistische' Absichten vorzuwerfen, ihnen ihre sikeliotischen Bündner abspenstig zu machen und sie ganz aus Sizilien hinauszukomplimentieren. Etwas zu kurz kommen generell die präventiven Ziele Athens im Westen in den 420er Jahren (Thuk.2,9; 3,86). Die Leistungen Kleons während des Archidamischen Krieges (S.165-167) bilanziert Saldutti positiv. Rückschläge hat es gegeben und auch die expansionistische Neuorientierung, die Athen die Vorherrschaft zu Lande und zu Wasser einbringen sollte, scheiterte, aber Kleons Politik war stringent und überdies insofern erfolgreich, als sie weitere Verwüstungen Attikas unterband und es letztlich ermöglichte, zum Nikiasfrieden zu gelangen. Auch daher bewertet Saldutti Kleons Strategie als agiler, aggressiver und dem Kriegsverlauf angemessener als die widersprüchlichen Planungen des Perikles. Deren offensive Seiten werden hierbei jedoch unterschätzt, weil auf ihrer Linie ja durchaus auch das Pylosunternehmen lag, das Sparta bekanntlich verhandlungsbereit gemacht hat. Wie Kleons expansionspolitische Bemühungen in Relation zu setzen sind zu Athens Ressourcen nach der ‚Pest', wird überdies nicht weiter vertieft. Mit seiner Untersuchung hält Saldutti den (z.T. entstellenden) antiken und modernen Kleonbildern einen in sich stimmigen Alternativentwurf entgegen. Er veranschaulicht die Notwendigkeit, sich von einem Vergleich Kleons mit Perikles zu lösen und ihn stattdessen unter Einrechnung der Veränderungsprozesse innerhalb der athenischen Gesellschaft sowie der Herausforderungen des Krieges zu betrachten. Auch wenn man diese Faktoren in eine realistischere Beurteilung Kleons einfließen lässt, kann man freilich, wie angedeutet, zu manch anderen Einschätzungen kommen als Saldutti. Zweifellos hat er jedoch einen lesenswerten, energischen und klar argumentierenden Versuch unternommen, Kleon, soweit das geht, aus dem übermächtigen Schatten des Perikles herauszulösen. Bibliographie, Quellen- und Namenregister schließen die Arbeit ab. Sie weist einige Tippfehler auf, z.B. S.152 u. 218: Cleadrida statt Clearida, S.175: Achantus statt Acanthus; S.196: Schreibelreiten statt Scheibelreiter; S.211: Alcybiade statt Alcibiade. Anchimolios (S.56 A.44) war nicht Spartanerkönig und Nisaia nicht durch lange Mauern mit Pagai verbunden (S.139).
Notes:
1. M.Zahrnt, "Das Megarische Psephisma und der Ausbruch des Peloponnesischen Krieges", HZ 291, 2010, 593-624.
2. The New Politicians of Fifth Century Athens (Princeton 1971).
3. Cléon Le guerrier d'Athéna (Bordeaux 2013), von Saldutti nicht systematisch herangezogen.
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