Reviewed by Stefan Ardeleanu, Ruprecht-Karls Universität Heidelberg (st.ardeleanu@gmail.com)
Das hier besprochene Buch fügt sich in eine Reihe von monumentalen Monographien, mit welchen einige Forscher ihre über Generationen gewonnenen Erfahrungen zum antiken Nordafrika verschriftlichen. Dieses Publikationsmedium der aperçus erfreut sich insbesondere in der frankophonen Forschung jüngst einer steigenden Popularität. In diesem Falle ist dem 2011 verstorbenen J.-M. Lassère ein regelrechtes „Buch-Monument" gelungen. Dem Leser muss aufgrund der postumen Publikation bewusst sein, dass nach 2011 erschienene Forschungsliteratur nur teilweise und durch die Redakteure des Bandes eingearbeitet wurde. Der ansprechende Titel beleuchtet vortrefflich das Anliegen des Verfassers, eine „quasi römische Welt" in Nordafrika mit all ihrer Problematik und Ambiguität zugleich provokativ und interpretationsoffen beschreiben zu wollen. Seine Motive schickt der Autor einleitend voraus: einerseits die Lückenhaftigkeit und Selektivität der älteren Handbücher; andererseits das Verlangen, ein möglichst vollständiges historisches Bild zu zeichnen (7). Mit dem formulierten Postulat, die Quellen selbst sprechen zu lassen und damit eine „totale" afrikanische Geschichte zu skizzieren, setzt Lassère seinen Maßstab hoch an. Gegliedert ist das Buch in drei Hauptteile: die Schaffung des römischen Nordafrika, seine „Blütezeit" und die Spätantike, jeweils unterteilt in thematische Unterkapitel mit Einführung und Zusammenfassung. Das Ganze wird gerahmt von drei Einführungen und einem Gesamtfazit. Im Anhang enthält der Band eine Zeittafel sowie einen Quellenapparat. Die Bibliographien jeweils am Ende der Kapitel sind nützliche Werkzeuge, da viele Titel – auch in den Fußnoten – einen knappen Kommentar enthalten. Im Gegensatz zu den bisherigen aperçus fallen die Kapitel I-III, die den Bogen von der Vorgeschichte bis zu den hellenistischen Königsreichen Nordafrikas spannen, nicht zu knapp aus. Bedauerlicherweise beziehen sie ihre Grundlagen aus einer veralteten Literaturlage. Für Karthago, Althiburos, Lixus oder Thugga (51) hätte beispielsweise ein deutlich aktuellerer Forschungsstand zur Verfügung gestanden, der das Siedlungsbild vollständiger und differenzierter dargestellt hätte. Daher verwundert es nicht, dass das längst widerlegte „système Cintas", das „punische Faktoreien" entlang der Küsten Nordafrikas suggerierte, bestätigt wird (60). Sehr zu begrüßen ist hingegen, dass sich Lassère von einigen hartnäckig überdauernden Dogmen im postkolonialen Identitätsdiskurs des Maghreb distanziert: Ein „nationales Einheitsgefühl Numidiens" etwa hat es in der Antike nie gegeben (57). Neuartig ist das Zäsurdatum der ersten direkten römischen Einflussnahme in Nordafrika: nicht etwa die Zerstörung Karthagos 146, sondern der Afrikafeldzug des Regulus 256 v. Chr. (67). Lassères Sicht auf das republikanische Nordafrika (IV–V) zeigt bestens, dass die angestiegene Befundsituation und die erneute Auseinandersetzung mit der komplexen Textlage ein grundlegend unterschiedliches Bild zu zeichnen vermögen als die weit verbreitete pessimistische Perspektive eines von Rom „vernachlässigten" Nordafrikas. Der zweite Hauptteil zur Hohen Kaiserzeit bestätigt die wichtigsten Ergebnisse der jüngeren Forschung: keine Krise im 3. Jahrhundert, Deutung des Limes als Kontaktzone, massive Stadtrechtserhebungen, kontinuierlicher Bevölkerungsanstieg und Wirtschaftsaufschwung (IX). Konsequenterweise wird im wichtigen Wirtschaftskapitel (X) der Landgesetzgebung, Domänenpolitik und der Darstellung einzelner Produktionszweigen viel Raum zugesprochen. Kapitel XI beleuchtet verschiedene Facetten der kaiserzeitlichen Gesellschaft Nordafrikas. Es enthält Angaben zu den Eliten, die im 2.–3. Jahrhundert bis in die Reichsspitze vordrangen, zu Berufen, zu Familien- und Stammesstrukturen, zur jüdischen Gemeinde und zu Migrationsströmen. Kapitel XII bietet ein Panorama, das „la gloire de l'Afrique romaine" (300) ins Licht rücken soll. Vorgestellt werden Urbanistik und Bautypen einiger Städte, Kunst und Gelehrtentätigkeit. Es fehlen allerdings Referenzen zu Basisarbeiten zu Unterhaltungsbauten,1 zu Häusern 2 oder zur Plastik. Kapitel XIII befasst sich mit den Religionen Nordafrikas. Nach einer Vorstellung des vorrömischen „Substrats", werden Synkretismen, Assimilierung, interpretatio romana sowie Charakter einzelner Gottheiten und Kultmonumente durchgespielt. Hier gelingt es Lassère, die bunten Facetten der afrikanischen Religion(en) anschaulich darzustellen. Kapitel XIV für das 2. und XIX für das 3. Jahrhundert erläutern die Anfänge des Christentums in Nordafrika mit Schwerpunkten auf Kirchenstrukturen, Kultabläufen, Märtyrerverehrung und Christenverfolgung. Wichtig ist die Bemerkung, dass die Ansprache früher materieller Befunde als „christlich" schwierig bleibt. In Kapitel XV werden einige Städte vorgestellt. Leider bleiben dabei Grundlagenarbeiten, ohne die eine Behandlung der Urbanistik Africas heute nicht mehr möglich ist,3 undiskutiert. Wie in der Nordafrikanistik üblich, driftet die Debatte (XVI) alsbald auf Themen wie Stadtrecht, Lokaleliten, Verwaltung und Steuersystem ab – eine Tendenz, die auch gut in der nahezu ausschließlichen Zitierung der epigraphischen Studien Gascous, Jouffroys und Lepelleys nachzuvollziehen ist. Paragraph XVII bespricht einzelne Regionen, wobei jeweils eine nützliche Spezialbibliographie und naturräumliche Charakteristika vorangestellt sind. Folgend werden ländliches Leben und regionale Wirtschaftsausrichtungen besprochen. Erstmals sind dabei die rezenten Surveys berücksichtigt. Freilich waren auch hier viele Wiederholungen kaum vermeidbar, doch bietet der regionale Blick auf das heterogene Siedlungsbild einen erfrischenden Aspekt, der in den bisherigen Überblicken deutlich zu kurz kam. Bemerkenswert dabei ist, dass selbst solche Regionen, die traditionell weniger im Fokus der Nordafrikanistik stehen, gleichwertige Aufmerksamkeit im Vergleich zu den besser bekannten Gebieten erfahren. Einzig vermisst man eine durchaus mögliche Differenzierung der Gebiete anhand ihrer materiellen Kultur, etwa nach Bautechniken, epigraphic habit, Grabtraditionen oder Stilistik. Kapitel XX–XXII beleuchten das Nordafrika des 4.–5. Jahrhunderts. Sie diskutieren die Stammespolitik, einzelne militärische Konflikte und soziale Unruhen, betonen aber gleichzeitig die ungebrochene Wirtschaftsproduktivität, Neuerungen im Geldwesen, in der Territorialorganisation und in der ländlichen Arbeitswelt. Die munizipale Ordnung inklusive ihres treibenden Motors – dem Euergetismus – blieb bis ins frühe 5. Jahrhundert erhalten, wie anhaltender Bauboom und die Verdichtung des Straßennetzes belegen. Exkurse zum Donatistenstreit (XXIII) und den militärischen Revolten des 5. Jahrhunderts (XXIV) leiten schließlich zur Vandalenzeit über (XXV), die jüngst eine rege internationale Aufmerksamkeit erfahren hat. Zwar folgt Lassère einigen Tendenzen dieser Studien: kulturelle Kontinuität, Restaurierungen, hohe künstlerischen Qualität sowie anhaltender wirtschaftlicher Boom. Dennoch erstaunt das spärliche Zitieren von Literatur, die über frankophone Analysen, insbesondere C. Courtois' Werk von 1955, hinausgeht. Man denke an jüngere Arbeiten,4 deren Berücksichtigung einige überholte Szenarien wie die Ruralisierung der Städte, eine vermeintlich im Befund erkennbare Kluft zwischen „Romano-Afrikanern" und „Germanen" (689) oder die durchweg desaströse Bilanz zum vandalischen Jahrhundert (693) sicher nuanciert hätte. Kapitel XXVI thematisiert die byzantinische „reconquista" Nordafrikas. Die Frage, ob es sich um ein „anderes Rom" handelte, wird bemerkenswerterweise auch auf die spätantiken Maurenreiche übertragen, wenngleich erneut zentrale jüngere Studien ausgeklammert sind.5 Vielmehr bleibt Lassère seiner üblichen Schwerpunktsetzung auf Verwaltung, Wirtschaft, ländliche Bevölkerung, Militär- und Kirchenpolitik treu. Besonders erfreulich ist die Abhandlung des mittelalterlichen und nunmehr muslimisch geprägten Ifrîqiya im Epilog. Wenngleich wiederum einige Forschungsfortschritte, beispielsweise zur Keramik und zum Hausbau bzw. zum Siedlungswesen fehlen,6 ist das Kapitel ein nützlicher Einstieg zum nordafrikanischen „Nachspiel der Antike". Der Fokus liegt auf den islamischen Eroberungszügen im 7.–8. Jahrhundert sowie den letzten Zeugnissen des Christentums. Ein großes Verdienst des Verfassers ist, stets den geopolitischen Rahmen berücksichtigt, und damit die Ereignisse in Afrika in einen größeren Gesamtzusammenhang gebettet zu haben (V; VIII; XVIII). Sehr zu begrüßen ist die wiederholte Entfernung von einigen Bipolaritäten, die sich hartnäckig in der Forschung halten. In der Frage, ob die Flavierzeit als Bruch oder als Kontinuität anzusehen ist, wählt Lassère beispielsweise einen neutralen Erklärungsweg, der beide wichtigen Aspekte zusammenbringt, anstatt sie zu kontrastieren (VIII). Beizupflichten ist der Kritik an jüngerer Forschung, sich dort, wo die Quellen schweigen, mit anachronistischen, neuzeitlichen Vergleichen weiterzuhelfen (10). Ein grundsätzliches Problem des Bandes stellt die Selektivität der angeführten Sekundärliteratur dar. Während frankophone Forschung bis hin zu unpublizierten Dissertationen sehr ausführlich ausfällt und bis 2014 reicht, sind bedeutende Lücken in der anderssprachigen Literatur augenfällig. Der lange Publikationsprozess hat oftmals zu rückständigen Forschungssituationen geführt, was dem Ziel, ein aktuelles Handbuch zu bieten, diametral entgegenläuft. Die Abbildungsqualität ist durchweg solide, doch bisweilen unzureichend (Abb. 17; 18. 21; 94; 105) oder veraltet (Abb. 16; 22; 89). Bei einigen Bildbesprechungen erstaunen die angebotenen Deutungen: Das „Dii-Mauri-Relief" aus Simitthus (Abb. 6) ist weder unpubliziert, noch vorrömisch, sondern wegen stilistischer Kriterien hochkaiserzeitlich zu datieren. Das vermeintliche Iugurthaportrait (Abb. 14) wurde längst als barkidische Prägung auf Sizilien korrigiert. Generell überraschen bei der Einordnung archäologischer Quellen einige Feststellungen: Die Produktion afrikanischer Sigillaten setzte nicht erst im späten (154), sondern im frühen 1. Jahrhundert ein. Iol und Hippo Regius (und mit Sicherheit auch Utica und Karthago) besaßen schon vor dem vermeintlich ältesten, Aquädukt Nordafrikas in Thysdrus (392) große Wasserleitungen. Kaum überzeugend erscheint das Szenario der Persistenz eines „libyschen" Dekormusters bis in die Spätantike, das durch seine Geometrik erkennbar sei (558). Intraurbane Bestattungen kamen nicht in byzantinischer Zeit (719), sondern spätestens im 4. Jahrhundert auf. Redaktionell lassen sich nur marginale Aspekte beanstanden. Fremdsprachliche bibliographische Angaben enthalten wiederholt fehlerhafte Schreib- (82 Anm. 28; 170 Anm. 89; 200 Anm. 58; 406 Anm. 71; 452; 693) und Zitierweisen (109 Anm. 77; 210 Anm. 131; 744 Anm. 79). Die Großschreibung im Englischen wird uneinheitlich gehandhabt. Ambivalent fällt eine Beurteilung des Kartenmaterials aus. Carte 3 zeigt mehrere Städte in inkorrekter Position (Sicca Veneria; Thuburbo Maius). Andererseits ist Carte 4 zum Limes durchaus instruktiv, obwohl Cidamus mehrere hundert km und Gheriat al-Gharbia zu weit südlich gelegen kommen. Carte 5 enthält zahlreiche fehlerhafte Toponyme („Mile"; „Catama"; „Rusicaoe"; „Macauros"; „Diarhutus"). Einen Schwachpunkt stellt die auf ein Minimum beschränkte theoretisch-terminologische Auseinandersetzung mit „alten Problemfeldern" der Nordafrikanistik dar. Ohne hier eine tiefergehende Diskussion über Modelle wie „Punisierung", „Hellenisierung" (jeweils keine Definition im gesamten Band) oder „Romanisierung" führen zu können, verwundert die 250 Seiten währende Ignoranz der kritischen Sichtweisen zu diesen Modellen.7 Wenn solch problematische Schlagworte wie „punicisée", „néopunique", „bourgades libyennes", „élites romanisées", „romanitas", „agent de la romanisation", „urbanisme nouveau" und „rôle romanisateur" allein auf einer Seite (152) erscheinen, drängt sich unweigerlich die Frage auf, warum erst derart spät eine Begriffsdiskussion geführt wird (246–253). Die vermeintlich harten Argumente für „Romanisierung" allerdings allein auf Sprache, Schrift, Onomastik und Sozialstatus einzugrenzen, und daraus eine Definition abzuleiten, welcher zufolge die „Afrikaner sich nicht den Römern unterlegen, also quasi Roma fühlten", wird der langen interdisziplinären und komplexen Forschungsdebatte nicht gerecht. Umso erstaunlicher ist, dass ein weiteres Mal die Polemik spürbar wird, die mittlerweile über dem Diskurs liegt. Während Lassère zumeist konträre Meinungen neutral-sachlich abwägt und sichtlich bemüht „sanft" paraphrasiert, klingt hier seine volle Überzeugung für die Beibehaltung des Romanisierungsmodells (253) durch. Es werden Lektüre-Empfehlungen an Kritiker ausgesprochen (247 Anm. 18), und pejorative Bewertungen ihrer Arbeiten angeführt („pour ne pas dire plus!"). Befürworter des Modells werden in ihren Ideen hingegen nur marginal verfeinert. Das Wichtigste aber fehlt: eine kritisch-argumentative Auseinandersetzung mit den dargelegten contras. Gerade hier zeigt sich eine Konsequenz der nur teilweise berücksichtigten, jüngeren und internationalen Forschung. Resümierend haben wir es mit einem sowohl sprachlich als auch inhaltlich wahrlich schwergewichtigen Buch zu tun, das dem Laien und Kenner der nordafrikanischen Antike in jeglicher Thematik einen soliden Einstieg mit den einschlägigen Primärquellen und der zumeist wichtigsten Sekundärliteratur vermittelt. Insofern darf das eingangs gesteckte Ziel einer „totalen" Geschichtsschreibung durchaus als erfüllt gelten. Dennoch ist zu bemerken, dass die innovativen Aspekte, die der Band zweifelsohne zu bieten hat (darunter fallen auch Struktur und Titel), leider von der Informationsmasse und den zahlreichen Wiederholungen kaschiert werden. Deswegen wird wohl die einleitend geäußerte Hoffnung, der Lehre ein gutes Einstiegswerk zur Hand zu geben, eher unerfüllt bleiben. Vom theoretisch-methodischen Standpunkt aus gesehen belegt der Band einmal mehr, dass es wohl noch einige Jahre dauern wird, bis sich ein kritisches Differenzieren der üblichen Herangehensweisen etablieren wird. In der spezialisierten Nordafrikaforschung wird Lassères Buch aber künftig sicherlich zu einer Standardreferenz werden, da die wichtigsten Fragen an das reiche Material aufgrund der profunden Afrikakenntnis des Autors und seiner meist sachlichen Analyse en bloc versammelt sind.
Notes:
1. C. Hugoniot, Les spectacles de l'Afrique romaine (Lille 2003).
2. M. Carucci, The Romano-African Domus (Oxford 2007).
3. C. Kleinwächter, Platzanlagen nordafrikanischer Städte (Mainz 2001); J. Eingartner, Templa cum porticibus. Ausstattung und Funktion italischer Tempelbezirke in Nordafrika (Rahden 2005); A. Bowman – A. Wilson (Hrsg.), Settlement, Urbanization, and Population (Oxford 2011).
4. A. Leone, Changing Townscapes in North Africa from Late Antiquity to the Arab Conquest (Bari 2007); P. von Rummel, Habitus Barbarus: Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 5. und 5. Jahrhundert (Berlin 2007); L. Dossey, Peasant and Empire in Christian North Africa (Los Angeles 2010); A. Merrills – R. Miles, The Vandals (Oxford 2010).
5. A. Merills, Vandals, Romans and Berbers: New Perspectives on Late Antique North Africa (London 2004).
6. E. Fentress, The House of the Prophet: North African Islamic Housing, Archeologia Medievale 14, 1987, 47–68; C. Touhiri – A. Ferjaoui, Présentation d'un îlot d'habitat médiéval à Jama, Africa 3, 2003, 87–111; E. Fentress – P. Cressier (Hrsg.), La céramique maghrébine du haut moyen ȃge (VIIIe-Xe siécle) (Rom 2011).
7. J. Quinn, Roman Africa?, in: A. Merryweather – J. Prag (Hrsg.), Romanisation? (London 2003) 7–34.; D. Mattingly, Becoming Roman: Expressing Identity in a Provincial Setting, JRA 17, 2004, 5–25.
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