Reviewed by Denise Reitzenstein, Ludwig-Maximilians-Universität München (Denise.Reitzenstein@lrz.uni-muenchen.de)
Im Falle einer – zumal deutschsprachigen – Rezension zur zweiten Auflage von Anthony A. Barretts Caligula-Biographie drängen sich drei Fragen auf: 1. Welchen Platz nimmt Barretts Caligula: The Corruption of Power rund ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen in der Forschung ein? 2. Was hat sich in der zweiten Auflage verändert? 3. Wie verhält sich Barretts Buch zur einschlägigen deutschsprachigen Caligula-Biographie von Aloys Winterling, deren Erstveröffentlichung inzwischen ebenfalls gut ein Jahrzehnt zurückliegt?1 Vor dem Erscheinen von Barretts Caligula-Biographie galt im englischsprachigen Bereich die 1934 veröffentliche Untersuchung John Balsdons2 als einflussreichste Studie über den dritten römischen Kaiser. Balsdons Gaius, der sich zum Zeitpunkt des Erscheinens noch nicht mit Diktatoren und Autokraten des 20. Jahrhunderts wie Hitler und Stalin, Idi Amin und Bokassa messen lassen musste,3 agiert planvoll und bricht mit dem einseitigen Bild des wahnsinnigen Princeps, das die antike, durch eine senatorische Perspektive dominierte Historiographie überliefert.4 Barrett erhielt im Vergleich mit Balsdon insbesondere für seine Richtigstellung zahlreicher Details einer verzerrten Überlieferung Anerkennung.5 Mit seiner Quellenkritik distanziert sich Barrett von dem überzeichneten Bild des Kaisers in der antiken Historiographie und der älteren Forschung, das Arther Ferrill in seiner 1991 vorgelegten Caligula-Studie wieder aufgreifen sollte: Ferrill hält an dem Urteil fest, Caligula sei schlicht verrückt und der Rehabilitierung unwürdig.6 Ein Großteil der englischsprachigen Rezensionen behandelt Barrett jedoch nicht Seite an Seite mit Ferrills Caligula- Monographie, sondern mit Barbara Levicks 1990 erschienener Claudius-Biographie.7 Mit Claudius ist nicht nur Caligulas unmittelbarer Nachfolger in den Blick genommen, sondern es stellt sich auch die strittige Frage nach dem Wert von (kaiserlichen) Biographien überhaupt. Diese Diskussion ist 1989 genauso aktuell wie 2015: Welchen Erkenntnisgewinn bietet eine biographische, personenzentrierte Abhandlung kaiserzeitlicher Geschichte, insbesondere angesichts einer Überlieferung, die derart disparat, selektiv und/oder voreingenommen ist wie insbesondere im Falle Caligulas? Ein 2006 erschienener Aufsatz Christian Witschels blickt nicht nur auf Caligula, sondern zusammen mit Nero, Domitian, Commodus und Elagabal auf eine Reihe „nonkonformer" römischer Kaiser, die wie Caligula in den antiken Quellen als „verrückt" stilisiert werden: Witschel führt hier vor allem die teilweise erheblich divergierenden Erwartungen an den Kaiser ins Feld, die eine Vielzahl von sozialen Gruppen innerhalb des Imperium Romanum — etwa Senatoren, Peregrine, die Plebs, das Militär — gehabt hätten; gemeinsam mit anderen nonkonformen Herrschern betone Caligula übermäßig eine Rolle unter vielen, nämlich die des „Gott-Kaisers", ein Herrscherideal, das insbesondere den im griechischen Osten lebenden Peregrinen vertraut gewesen sei.8 In seiner Neuauflage erkennt Barrett zwar die Grenzen einer biographischen Abhandlung an, liefert jedoch auch hier keine methodische Auseinandersetzung (1–2). Die augenfälligste Veränderung der zweiten Auflage findet sich im Untertitel: Barrett nimmt Abstand von „the corruption of power" und ersetzt „corruption" durch den vielleicht nicht minder schwierigen Begriff „abuse", setzt er doch voraus, die kaiserliche Macht habe in der Regierungszeit des Caligula eine unangefochtene, institutionalisierte Basis, die ein Princeps missbrauchen könne. Mit dem veränderten Untertitel geht auch eine leicht veränderte Sicht Barretts einher, sich der Person des Caligula zu nähern: „I am inclined now to view Caligula not so much as an individual corrupted by power but rather as an individual incapable from the outset of performing the task he took on... Anyone in any sort of managerial situation, whether it be the ruler of a country or the secretary of a local book club, needs to possess either some capacity for efficient administration, or a natural amiability that will disarm others into overlooking administrative deficiencies. The best administrators possess both; Caligula possessed neither. And he possessed neither from the outset." (xii)
Offen lässt Barrett in diesem Vorwort zur zweiten Auflage, was einen Princeps in der 1. Hälfte des 1. Jh.s zur effizienten Lenkung und Verwaltung der Res publica denn befähigen würde und auch, was mit „natural amiability" gemeint ist. Mit Witschel jedenfalls dürfte diese Form naturgegebener Freundlichkeit von den konkreten Erwartungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen abhängen.
Darüber hinaus gruppiert Barrett in der zweiten Ausgabe einzelne Kapitel um: Die Kapitel „Assassination" (247–269) und „Aftermath" (270–283) haben jetzt einen sinnvolleren Platz nach (und nicht mehr vor) den Kapiteln „Caligula and the Jews" (207–222) sowie „Caligula the builder" (223–246). Der Abschnitt „Coins, inscriptions and sculpture" (322–337) avanciert vom Appendix zum letzten Kapitel und wirft die Frage auf, warum der Überblick über numismatische, epigraphische und bildliche Überlieferung keinen Eingang in die neue Einleitung (1–16) – das überarbeitete, um kurze Hinweise auf neuere Forschung erweiterte „Foreword" der ersten Auflage – nach (oder vielleicht sogar vor) dem Abschnitt „Literary sources" (9–14) gefunden hat. Zu Beginn dieses Absatzes findet sich immerhin der programmatische Satz: „At the heart of any historical study of any period is the range and quality of the sources available" (9). Eine Kombination aus allen verfügbaren Quellen – eben nicht nur den literarischen – liefert wertvolle Einblicke in biographisch relevante Details, und genau dieses Material bezieht Barrett selbst schließlich auch immer wieder in seine Betrachtungen Caligulas ein.
Barretts Bild Caligulas konkurriert in neuerer Zeit ernsthaft tatsächlich nur mit der konsequent rationalisierenden Deutung, die Winterling von Caligulas Handeln im Kontext der frühen Kaiserzeit entwirft.9 Während Barrett, wie bereits erwähnt, von der grundsätzlich veranlagungsbedingten Unfähigkeit Caligulas ausgeht, den Bedingungen seiner Herrschaft zu begegnen, ist Winterlings Caligula das genaue Gegenteil: ein Genie, das diese Bedingungen nicht nur durchschaut, sondern ihre Widersprüche durchgängig zur Schau stellt — in erster Linie, in Winterlings Worten, die „doppelbödige Kommunikation" zwischen Princeps und Senat. Barrett nimmt in seiner bearbeiteten Neuauflage Winterlings Publikation zur Kenntnis (4), setzt sich hier jedoch nicht mit seinen Argumenten auseinander.10 In der durchgängigen Dekonstruktion der antiken Quellen und Rationalisierung von Caligulas Handeln ist Winterling in gewisser Weise der Epigone Balsdons, und wie auch bei letzterem bleibt Winterlings Ansatz nicht ohne Kritik.11 Ist Barretts Caligula vielleicht der Kompromiss zwischen dem verrückten Kaiser der senatorischen Geschichtsschreibung und dem kühlen, vernunftgesteuerten Princeps Winterlings — kein richtiges Monster, aber doch in seiner persönlichen Veranlagung nicht immer für die Aufgabe befähigt, die er ausfüllen sollte? Trotz des wertvollen Zugewinns, den eine Dekonstruktion unserer literarischen Überlieferung bietet, bleibt am Ende das Dilemma: Caligula könnte so oder auch ganz anders gewesen sein.
Im Falle des Caligula Barretts bleibt festzuhalten: Sein Caligula ist in der zweiten Auflage kein anderer Mensch und Kaiser. Trotz der Neuordnung einiger Kapitel, der sprachlichen Verbesserung mancher Sätze sowie der Erweiterung einzelner Passagen sowie Fußnoten um neuere Belege setzt sich Barrett nicht systematisch mit aktueller, insbesondere mit nicht-englischsprachiger Forschung oder mit den methodischen Vorbehalten einzelner Rezensenten der Erstauflage auseinander. Wem es um eine leicht verbesserte Lesbarkeit des Textes geht, mag die zweite Auflage bevorzugen. Wer aber die Erstauflage in seinem Bücherregal hat, kommt weiter gut mit ihr aus.
Notes:
1. Aloys Winterling, Caligula. Eine Biographie, München 2004 (korrigierte Neuausgabe München 2012). Seit der Erstveröffentlichung ist das Buch nicht nur ins Englische, sondern auch ins Italienische, Niederländische und Spanische übersetzt worden.
2. J.P.V.D. Balsdon, The Emperor Gaius (Caligula), Oxford 1934.
3. Dann aber bei Barrett 1989, 241; Arther Ferrill in seiner Rezension zu Barrett für BMCR 02.01.01.
4. Auch Balsdons Perspektive, in Thomas E. Gouds Rezension zu Barrett 1989 und Ferrill 1991, in: Phoenix 47, 1993, 174–177 als „patent ‚whitewashing'" (hier: 174) bezeichnet, der also Caligulas Handeln damit ebenfalls vor den zeitgenössischen Erfahrungen mit Diktatoren und autoritären Staaten des 20. Jahrhunderts liest, ist nicht ohne Vorläufer: Ein ausgezeichneter Überblick über die Forschung zu Caligula (sowie Claudius und Nero) bei Christian Ronning, Zwischen ratio und Wahn. Caligula, Claudius und Nero in der altertumswissenschaftlichen Forschung, in: Zwischen Strukturgeschichte und Biographie, hg. v. Aloys Winterling, München 2011, 253–276.
5. So Aloys Winterling, Politics and Society in Imperial Rome, Malden, MA u.a. 2009, 109f.
6. Arther Ferrill, Caligula. Emperor of Rome, London 1991, besitzt gegenüber Barretts Studie jedoch keinen erkennbaren Mehrwert – in Thomas Gouds Worten: „Ferrill's book (...) is, almost entirely, an uncritical retelling of the stories in Tacitus, Suetonius, and Dio; for those who will take the time to read the originals there is nothing new." Thomas E. Goud, wie Anm. 4, (Zitat: 175) und Asko Timonen, in: GB 19, 1993, 315–317, der als drittes Buch den Titel von T.P. Wiseman, Death of an Emperor. Flavius Josephus, Exeter 1991 in seine Rezension aufnimmt. Ferrill in seiner Rezension zu Barrett für BMCR 02.01.01, die im Wesentlichen Werbung für seine eigene Caligula-Biographie macht: Arther Ferrill, Caligula. Emperor of Rome, London 1991.
7. Barry Baldwin, in: AHB 4, 1990, 133–149; Herbert Benario, in: CJ 86, 1990/91, 285–286; Keith R. Bradley, in: Ploutarchos 10, 1993/94, 13–20; Brian Campbell, in: EHR 108, 1993, 692–693. Ebenfalls jetzt in zweiter Auflage erschienen ist Barbara Levick, Claudius, London 2015.
8. Christian Witschel, „,Verrückte Kaiser'? Zur Selbststilisierung und Außenwahrnehmung nonkonformer Herrscherfiguren in der römischen Kaiserzeit", in: Einblicke in die Antike. Orte – Praktiken – Strukturen, hg. v. Christian Ronning, München 2006, 87–129.
9. Die knappe monographische Abhandlung von Sam Wilkinson, Caligula, London 2005, führt die Probleme von Caligulas Prinzipat auf Schwächen des Senats zurück. Es ist leider gekennzeichnet von handwerklichen Schwächen, insbesondere bei der Rezeption neuerer Forschung, vgl. Stéphane Benoist, in: AC 76, 2007, 209–210; die französischsprachige Biographie von Pierre Renucci, Caligula: l'impudent, Gollion 2007, die Caligula im Kontext der politischen, religiösen und sozialen Bedingungen der iulisch-claudischen Zeit untersucht, ist von der (internationalen) Forschung bislang gänzlich unbeachtet geblieben — nicht ganz zu unrecht, rezipiert sie selbst doch kaum die aktuelle Forschung.
10. Barretts Rezension zu Winterlings Caligula-Biographie (in englischer Übersetzung), in: Mouseion (Canada), 11, 2011, 407–410.
11. Etwa Christian Witschel, in: sehepunkte 4, 2004, Nr. 10; Antonio Guarino, Caligulas Pferd, in: ZRG 124, 2007, 332–335.
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