Reviewed by Jens-Olaf Lindermann, Freie Universität Berlin (j.lindermann@fu-berlin.de)
Mit diesem Buch legt Jean-Yves Guillaumin den dritten Band zu Les arpenteurs romains in der CUF-Reihe vor. Es enthält Edition, Übersetzung und Kommentierung eines spätantiken anonymen Frontin-Kommentars. Neben diesem commentum bietet der Band außerdem eine Edition des libellus diazographus, eines kleinen Heftes mit Abbildungen, die den Kommentar unterstützt haben sollen. Text und Übersetzung sind Anmerkungen (Notice, vii-xxx) vorangestellt: Nach "Sujet" (vii-viii) und "Nature" des commentum (viii-ix) geht Guillaumin präzise auf die Datierung des Autors (6. Jh. n. Chr.) ein (ix-xii), dessen Bildungshintergrund er (xii-xvii) vielleicht etwas zu positiv bewertet; angesichts der vernichtenden Urteile Lachmanns und Thulins ist diese Neubewertung aber für die weitere wissenschaftliche Diskussion zu begrüßen. Der christliche Hintergrund (xvii-xviii) des Autors wird kurz behandelt, ebenso die Quellen des commentum (xviii-xxiii): Neben Iulius Frontinus sind dies Siculus Flaccus, Hygin 1, Balbus und Agennius, dessen sogenannte status — und effectus — Lehre in de controversiis ebenfalls genau untersucht werden (xxiii-xxvi). Die Seiten xxvi-xxx behandeln den diazographus, da der Autor des commentum ebenfalls verantwortlich für das angefügte kleine Heft mit Abbildungen ist; die Möglichkeit, die Abbildungen bestimmten Textpassagen zuordnen zu können, beantwortet Guillaumin positiv (xxviii). In einem kürzeren Abschnitt (xxxi-xxxv) widmet sich Guillaumin den Textzeugen (xxxi-xxii) von commentum und diazographus, die auf einen Palatinus latinus 1564 (P, saec. ix) zurückgehen. Der in P verlorene Beginn von commentum und diazographus wird bewahrt durch eine späte Abschrift, den Bruxellensis p (saec. xii) und einen zu P fast gleichzeitigen Enkel G (saec. ix), der im Gegensatz zu P auch die Illuminationen überliefert. Nach der Begründung der texteditorischen Prinzipien (xxxiii-xxxiv) folgen kurze Hinweise (Avertissement, xxxvii-xxxix) u.a. zur neuen Paragraphierung des Texts und Anmerkungen zum libellus diazographus (xxxviii-xxxix). Bibliographie (xli-xliii), Danksagung und conspectus siglorum beschließen den einleitenden Teil. Es folgen Text und Übersetzung des commentum (1-23, Anmerkungsteil 49-117), der diazographus (25-48, Anmerkungsteil 119-144) und drei Indices (verborum notabilium, nominum, geographicus 145-157). Guillaumins Edition hat vor allem in ihrem editorischen Bereich einige Schwächen, so daß sie die letzte, wirklich als kritisch zu bezeichnende Edition Thulins nicht ersetzen kann. Auch Guillaumin übernimmt den Text ohne größere Änderungen; leider treten dabei Fragen nach der Textüberlieferung bzw. der Quellenbehandlung durch den Autor des commentum weitgehend in den Hintergrund. Das commentum ist nämlich in weiten Teilen eine Kompilation verschiedener Quellen, mit denen der Autor Passagen aus zwei gromatischen Traktaten eines Iulius Frontinus erläutert. Während Thulin in seiner Edition versucht hat, die unterschiedlichen Quellen im apparatus fontium sichtbar zu machen, sind bei Guillaumin nur die Frontinzitate markiert. Die anderen Anleihen finden sich teilweise im Anmerkungsteil, so daß nur beim mühsamen Nachschlagen in den Fußnoten (und nicht immer) deutlich wird, ob der Text nun dem Autor des commentum zuzuweisen ist oder nicht. Beispielsweise wird (16) zum Satz nam et in Italia Pisauro flumini latitudo est assignata eatenus quousque alluebat in n. 263 (90) nur auf Siculus Flaccus' allgemeine Bemerkung verwiesen und der heutige Name des Flusses (Foglia) genannt; daß der Satz wahrscheinlich aus Agennius 44, 22-23 Th. stammt, wird nicht erwähnt. Zur Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema sind damit immer noch Thulins Edition und seine Apparate unverzichtbar. Die Entscheidung Guillaumins, die Texttradition nur im Anmerkungsteil zu behandeln, ist auch deswegen ungünstig, weil man bei dem reichen (und interessanten) Anmerkungsteil, den Guillaumin wie stets bietet, wohl nicht immer damit rechnen kann, daß jede verwendete Quelle des commentum vom Leser als solche erkannt wird. Diese Quellen sind Texte, die nicht nur in der P-Redaktion (also der zweiten Handschriftenklasse) überliefert sind, sondern ebenso auch in der ersten Handschriftenklasse, die durch den Arcerianus (A, B, saec. vi) repräsentiert wird. Zwischen beiden Handschriften liegen rund 300 Jahre — eine Zeit, in denen die Texte weiter verändert wurden. Schon im Arcerianus liegt aber der Text Frontins in einer weitgehend durch die Agenniustexte kompilierten Fassung vor; diese Texte verwendet auch der Autor des commentum. Um seine Texte also tatsächlich kritisch richtig einordnen zu können, wäre es notwendig gewesen, die Überlieferungsgeschichte der von ihm verwendeten Texte deutlicher auch in den anderen Handschriftenklassen zu dokumentieren. Diese Dokumentation fehlt im kritischen Apparat und ist unübersichtlich und unvollständig in den Anmerkungsteil verschoben. So verweist Guillaumin in I 3 (2) und n. 39 beim ager occupatorius auf Siculus Flaccus' territis fugatisque hostibus, wo statt hostibus civibus steht, übersieht aber gleichzeitig, daß dieser Unterschied eher auf die Stelle Frontin. 8, 5-6 Th. territorium est quidquid hostis terrendi causa constitutum est zurückgehen dürfte. In solchen Fällen verweist Guillaumin häufig nur auf seine früheren Editionen. Ebenso wird manchen Hinweisen Thulins nicht energisch genug nachgegangen. In II 22 (19) merkt Thulin zu ad urbem venientibus peregrinis richtig an, daß der Autor in Rom schreibt1 und spekuliert im Apparat, daß peregrinus wohl schon die christliche Nuance 'Pilger' enthält. Ein "à propos de laquelle Thulin (apparat critique p. 67) se demande si elle ne désignerait pas des 'pélerins'" hundert Jahre nach dieser Frage ist als Antwort zu wenig. Im selben Kontext steht weiter unten die Anpassung des frontinischen alveum fluminis veterem in alvei Tiberis (II 21, 19) im commentum. Für Guillaumin (n. 323, 100) ist dies allein "unprocessus paléographique complexe". Daß der Autor in Verbindung mit ad urbem eine allgemeine Bezeichnung gegen einen ihm bekannten Flußnamen ausgetauscht haben könnte, wäre immerhin eine Überlegung wert gewesen, zumal die Anmerkungen sonst einen guten Ein-und Überblick über das commentum geben. Teilweise geht jedoch die Kommentierung über das hinaus, was man dem Autor zutrauen darf. Zwar bricht Guillaumin zu Recht die Lanze für einen Autor, der in der bisherigen Forschungsliteratur mit Ausdrücken wie "elendes Commentum"2 oder anderem belegt worden ist. Guillaumins Bewertung "la profonde connaissance de la lítterature gromatique ... et, dans une certaine mesure, sa capacité de réflexion sur les textes concernés" (xii) ist völlig richtig, dennoch würde es zu weit führen, dem Autor durch die Übersetzung von sermo obscurus mit "un langage mystérieux" (1) eine über Cicero vermittelte, auf Pythagoras zielende Anspielung zu unterstellen (n. 3, 50). Man sollte berücksichtigen, daß der Autor im 6. Jh. ein Latein zu kommentieren hatte, daß seinem Publikum nicht mehr ohne weiteres verständlich war. Statt an Cicero Tusc. 4,10 ist eher an Isid. PL 83, 816A cum autem doces, noli verborum obscuritate uti; ita dic, ut intelligaris, nec simplicibus loquendo displiceas zu denken.3 Die Übersetzung insgesamt hält sich an den lateinischen Text, erlaubt sich aber ab und zu auch Paraphrasierungen statt Genauigkeit, wie zum Beispiel: antiqui intercidendis portiunculis inter filios suos defigebant = "les anciens plantaint entre les parcelles de leur fils comme des pancartes pour en marquer la division" (10).4 Auch zum Apparat und zur Textkonstitution Guillaumins seien einige wenige Bemerkungen erlaubt. Guillaumin ändert in I 17 (6) bei secundum illam maiorem assignationem zu maiorum. Laudanda inventio, doch spricht der Autor sonst nie von maiores, sondern von veteres (I 1) oder antiquitas (II 2). Die zeitliche und kulturelle Nähe ist nicht gegeben. In II 25 nimmt Guillaumin Thulins Athetese von [religiosum enim vel a relinquendo] für sich in Anspruch. Etwas mehr Mut wäre Guillaumin in II 22 (19) zu wünschen gewesen, wenn er den deutlich sichtbaren Einschub hoc est mensoris, mit dem falsch der conditor und mensor in Personalunion gesetzt sind, im Text hält, obwohl er selbst n. 330 (101) auf diesen Fehler hinweist. Mangelnde Kenntnis sprachlicher Besonderheiten liegt vor bei Änderung von extra fano, extra sanctuario in den Akkusativ (II 25, 21), ebenso wie es dem lateinischen Sprachgebrauch durchaus entspricht, de mit dem Akkusativ zu konstruieren, weswegen in I 17 (6) de modum nicht in dimidio geändert werden muß. Die Edition des diazographus zu würdigen, stellt den Rezensenten vor Herausforderungen. Auch der ThLL kann irren, doch dem Verfasser des Lemma diazographus, Gudemann, zu unterstellen, nicht zwischen Substantiv und Adjektiv unterscheiden zu können und die richtige adjektivische Form mit diazographicus anzugeben (xxvii), verkennt nicht nur zweiendige Adjektive mit passivischer Nuance (autographus, orthographus), sondern auch, daß nur auf-ικος endende griechische Adjektive im Lateinischen analog gebildet wurden. Für Guillaumin sind die Zeichnungen des diazographus den Passagen des commentum weitgehend zuzuordnen, obwohl darin nirgends explizit auf die entsprechenden Figuren des Abbildungsteils hingewiesen wird. Für ihn ist der Autor des commentum auch Schöpfer der Abbildungen. Dies hängt damit zusammen, daß er die Aussage I 19 (7) sicut in subsequenti libello nostro designavimus quem diazographus nuncupavimus poterit agnosci für echt hält (n. 125, 71). Warum dann der Autor ausgerechnet hier unsauber konstruiert , erklärt Guillaumin weder im Anmerkungsteil noch erwähnt er den Heilungsversuch des Anakoluth mit designatum (Lachmann) oder Thulins Apparat-Anmerkung. Daß sich die Abbildungen dem commentum zuordnen lassen, hängt allein mit seinen Quellen zusammen: Da im Palatinus schon die Frontintexte nicht illuminiert sind, kann man die Zeichnungen nicht zwingend allein auf das commentum beziehen. Ähnlichkeiten ergeben sich zum Beispiel auch mit den Illuminationen zum Hygini gromaticus liber. Die entsprechenden Bildbeschreibungen Guillaumins lassen deswegen kunsthistorische ebenso wie mathematische Aspekte weitgehend unberücksichtigt. Bei den Abbildungen betont Guillaumin in der Einleitung (v.a. xxxiii-iv) die Präsentation nach Prinzipien der Textkritik. Daß dazu auch Mittel der Bildbearbeitung gehören, durch die die Abbildungen einer Recto-und einer Verso-Seite so vereint werden (fig. 9, 34), daß der Betrachter den Eindruck erhalten muß, ein einzelnes folium vor sich zu haben (und dies nur aus der Bildbeschreibung ersichtlich ist), wird nirgends deutlich gesagt. Daß bei Abbildung 9 außerdem Knotenzeichnungen und die Abbildung einer hexagonalen colonia dieser Bildbearbeitung zum Opfer gefallen sind, wird ebenfalls nicht erwähnt. Ferner erstaunt es, wenn bei Abbildung 11 (36) von der der Zeichnung in Rustica beigefügten Legende rigor finalis latitudo eius usque triginta pedes nur rigor finalis übrig bleibt und man 132 erfährt: "cette légende n'est pas d'origine et c'est pourquoi nous la supprimons de la figure que nous éditons." Immerhin läßt sich der Originalzustand der Illuminationen mithilfe der online abrufbaren Digitalisate überprüfen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es Guillaumin gelingt, die vielfältigen inhaltlichen Aspekte des commentum darzustellen und durch die teilweise gründliche Kommentierung das Bild von Autor und Werk gegenüber der älteren Forschungsliteratur zu korrigieren. Bei Fragen der Quellenabhängigkeit und damit zusammenhängend bei Fragen der Texttradition sind die Apparate der Thulin-Edition weiterhin unverzichtbar, da Guillaumins Interessen nicht unbedingt in der Textkritik und –konstitution liegen. Dies zeigt sich auch in seiner Präsentation des liber diazographus, die durch unzureichend ausgewiesene Bildbearbeitung über das hinausgeht, was kunsthistorisch erlaubt ist.
Notes:
1. C. O. Thulin, "Der Frontinuskommentar. Ein Lehrbuch der Gromatik aus dem 5.-6. Jahrh.", RhM 68 (1913), 110-127, 114.
2. Die Handschriften des Corpus agrimensorum Romanorum. Aus dem Anhang zu den Abhandlungen der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1911, Berlin 1911.
3. Vgl. dazu z.B. J. Kramer, "Die Geschichte der lateinischen Sprache", in: F. Graf (ed.), Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart 1997, 115-164, bes. 151-152.
4. Statt filios ist vielleicht fundos zu lesen.
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