Reviewed by Christoph Eucken, Universität Bern (christoph.eucken@kps.unibe.ch)
Der Menexenos, „die verwirrendste Schrift Platons"1, hat die unterschiedlichsten Interpretationen erfahren. Das Hauptstück, von Dialogen eingerahmt, ist eine Grabrede; Sokrates hat sie angeblich bei Aspasia, die als seine Rhetoriklehrerin wie auch die ihres Mannes Perikles figuriert, auswendig gelernt und trägt sie dem jungen Menexenos vor. Die einen sehen hier die Persiflage patriotischer Schönrednerei, andere die Darstellung eines idealen Athen und Dritte eine Verbindung von Scherz und Ernst.2 Das anzuzeigende Buch vertritt den Anspruch einer neuen Sicht, gehört aber, ohne dies deutlich zu machen, in die Tradition der zweiten Gruppe.3 Die Leitlinien für diese Auffassung werden in der Einleitung gegeben, zunächst mit der apriorischen Erklärung für die Singularität des Menexenos. Er wird definiert als Um- und Neuschreibung des perikleischen Epitaphios in der Fassung durch Thukydides (2). Nun hat zwar Platon einen klaren Hinweis auf diese Rede als Bezugspunkt seiner eigenen gegeben (236 a8 – b6), daneben bestehen aber auch Verbindungen zu anderen Werken, so besonders zum Dialog Aspasia des Sokratikers Aischines, in dem ihre Darstellung als Lehrerin des Sokrates in bestimmenden Zügen vorgezeichnet ist,4 wie auch zum Epitaphios des Lysias, der eben jene Begründung der innergriechischen Kriege gibt (2,48), die Platon übernimmt (242 a2-4)5 und die hier – ohne diesen Bezug – zu einem Teil seiner Geschichtstheorie gemacht wird (203f). Die ohne nähere Textbetrachtung vorausgesetzte Behauptung von der totalen Ausrichtung auf das eine Werk ist grundlegend für die folgende Gesamtkonstruktion und exemplarisch für ihre Methode. Auf sie aufgebaut ist das Vorhaben (4-7), den Menexenos nicht als dessen ‚Parodie', sondern als seine ‚Verbesserung' (improvement) zu deuten. Das Buch besteht im Großen aus zwei Teilen. Der erste (Part I) bereitet in verschiedenen Diskussionen auf den zweiten vor, in dem – in zwei Abschnitte gegliedert (Part II und III) – eine reiche Argumentation entfaltet und zum spektakulären Abschluss geführt wird. Eine fortlaufende Interpretation des Textes gibt es nicht. Dafür enthält der erste Teil eine knappe Übersicht über Aufbau und Inhalt (15-19). Weiter werden die Personen mit ihrem geschichtlichen Hintergrund und mit der Frage, welche Rollen sie in diesem Werk einnehmen, behandelt. Bei dem in mancher Hinsicht befremdenden Bild des Sokrates (20-31) wird erwogen, ob sein Auftreten mit einer Erzählung athenischer Geschichte bis zum Jahre 386, also bis 13 Jahre nach seinem Tode, mit der These, dass er als Geist aus der Totenwelt erscheine, zu erklären ist. 6 Die Frage bleibt in der Schwebe, ebenso auch die, ob es sich bei Menexenos um seinen Sohn handelt, den er zurechtweise.7 Gleichwohl begründen beide Thesen den Vorschlag, im Menexenos auch eine ‚Neuschreibung' der Perser des Aischylos zu sehen, da entsprechend dort der tote König dem Sohn erscheine, womit das Auftreten des toten Sokrates in Athen zu einer Vorahnung der Philosophenherrschaft werde (44f); diese Parallelisierung beruht freilich auf einem Irrtum über das Drama, in dem Dareios nur Atossa und dem Chor, aber nicht seinem Sohn Xerxes begegnet. Eine naheliegende Möglichkeit, die Besonderheit der Sokrates-Figur zu erklären, kommt nicht in Betracht: dass es – in Fortsetzung des Aischines – der Sokrates der ‚Sokratesdichtung' ist, die literarisierte Gestalt, die anachronistisch auftritt. Das Bild des Menexenos als des unphilosophischen Archegeten all derer, die das Werk als Scherz missverstehen (43; 91), beruht auf falscher bzw. unvollständiger Lektüre des Textes. Ihm ist nicht zu entnehmen, dass er sich anmaßt, die Grabrede für die Stadt halten zu wollen (15; 43); und nicht er allein lässt Sokrates' Umgang mit der Rhetorik als scherzhaft erscheinen (43); dieser selbst bietet ein solches Verständnis ausdrücklich an (236 c8f). – Aspasia wird eine bedeutende Rolle jenseits aller Komik als von Platon wiederentdeckter Lehrerin philosophischer Rhetorik gegeben (31-7). Ihr Schüler Perikles hingegen wird zum ungelehrigen geistig-politischen Widerpart (45-50). Grundsätzlich die Eigenart der einzelnen Grabreden innerhalb ihrer Gattung und nicht so sehr ihre schematische Gebundenheit auch gegen eine heute verbreitete Meinung zu betonen (58-76), erscheint durchaus berechtigt. Doch steht dieser Ansatz im Dienst des Verfahrens, die exklusive Beziehung der einen Rede auf die andere herzustellen. Das zu Anfang angekündigte Thema, den Menexenos unter der Frage ‚Parodie' oder ‚Verbesserung' zu erörtern, wird in ausführlichen Diskussionen – auch von neueren vermittelnden Deutungen – für die am Schluss gegebene eindeutige Antwort weitergeführt (77-93). Die strikte Alternative bedeutet aber bereits eine Einengung der Möglichkeiten und ist in dieser Funktion von der auf das Endergebnis ausgerichteten Gesamtargumentation vorgegeben. Löst man sich von ihrer eingangs festgelegten Prämisse, der Fixierung auf den einzigen und allgegenwärtigen Prätext, so ist die lange bis heute reichende Deutungstradition der ‚conciliateurs'8 der entgegengesetzten Positionen nicht so leicht zu widerlegen. Es ist kontraintuitiv, dem Menexenos jede Ironie abzusprechen, z.B. wenn Sokrates von Aspasia unter Androhung von Schlägen dazu gebracht wird, ihre Rede zu lernen, aber auch jeden Ernst abzustreiten, so etwa in der Prosopopoiie der Gefallenen als Mahner zu einem individuell zu verantwortenden Leben. Der zweite Teil präzisiert die Verbesserungsthese in vier Bereichen: Erziehung und Rhetorik (Part II) sowie Mythos und Geschichte (Part III). Die für das Verhältnis des Menexenos zur perikleischen Rede und die Argumentation des Buches wesentliche Textstelle (236 b3-6) wird hier gedeutet. Sokrates beschreibt, wie Aspasia die von ihm gelernte Rede verfertigt habe, „das eine aus dem Stegreif", ... „das andere aus früherer Vorbereitung, als sie, wie mir scheint, den Epitaphios verfasste, den Perikles vortrug, indem sie einige Überbleibsel (περιλείμματα) aus jener zusammenleimte." Die Autoren verstehen die ‚Überbleibsel' als die wertvollsten Teile, die Perikles – achtlos oder absichtlich – bei seinem Vortrag ausgelassen habe (106). Der schlichte Wortlaut besagt, dass er die für ihn verfasste Rede gehalten hat; und περιλείμματα sind Überreste – wohl aus dem Material, das in der Vorbereitung keine Verwendung fand. Die sinnwidrige Deutung erklärt sich aus der Verbesserungsthese und begründet sie zugleich: Platon greift auf die wahre Aspasia-Rede zurück und fasst die von Thukydides überlieferten "bröckeligen Teile" in dem ursprünglichen Ganzen zusammen. Dass Perikles nicht lernen konnte (105), ergibt sich für die Verfasser auch aus dessen Darstellung im Protagoras (102f) mit einem vom Text nicht gedeckten Resümee.9 Die Behandlung des perikleischen Epitaphios kommt dann dem Versuch einer Dekonstruktion gleich. Jetzt tritt an die Stelle, wo einst das Programm der "offenen Gesellschaft" gesehen wurde,10 das "rassistische" Bild eines Gemeinwesens der bloßen Tat, in dem der Logos 'exiliert' ist und die Bürger kraft ihrer 'Natur', unabhängig von Kultur und Gesetz, nichts lernen müssen (116-120). Man fragt sich freilich, wie durch Unfähigkeit ‚zerbröckelnde Teile' zu einem derart entschiedenen Gesamtbild zusammenfinden konnten. Es wird aus selektiver und oberflächlicher Textbehandlung gewonnen.11 Nicht wegbeweisen können die Autoren jedoch wesentliche Züge des perikleischen Epitaphios: gerade den Lerneifer (Thuc. 2,40,1-2), die Bedeutung des Nomos für die bürgerliche Gleichheit und staatliche Ordnung, die Unterscheidung von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen, den unablässigen Wettstreit um die ἀρετή (Thuc. 2,37,1-3). Die Konstruktion des Menexenos als Korrektiv dieses monströsen Gebildes ist nicht weniger problematisch. Die angeblich von Perikles aufgegebene erzieherische Absicht soll hier durchgehend bestimmend sein (8). Tatsächlich mahnt Sokrates in der Paränese die Hinterbliebenen unter anderem nachdrücklich, Erbe und Ruhm der Vorfahren nicht zu verspielen (247 b5-7), doch steht dieser ganze Teil in einem wohl beabsichtigten Widerspruch zum Epainos, wo es heißt, dass die Gefallenen sich als gut erwiesen hätten, weil sie von Guten abstammten (237 a6), und auch die Lebenden durch ihre reine Natur edel seien (245 c6-d6). Was zuvor in die perikleische Rede hineinprojiziert wurde, ist hier ein Hauptmotiv. Auch dass es Sokrates zur ersten Aufgabe des Staates mache zu erziehen (70 mit Anm.36), lässt sich aus den angeführten Stellen nicht belegen. Entsprechend ambivalent wäre das rhetorische ‚Preisen' im Menexenos nicht theoretisch als sprachliche Annäherung an eine hohe Wirklichkeit, vergleichbar derjenigen der Ideen, zu verstehen (130-2), sondern aus dem Kontext heraus, wo es mit Hinweisen auf eine widersprechende empirische Realität relativiert wird.12 Die Behauptung hingegen, dass Perikles vor dem Lobpreis zurückgeschreckt sei (121f) – gewonnen aus einer isolierenden Deutung des Proömiums – widerspricht sowohl dem Eindruck, den seine Darstellung als Idealbild macht,13 wie auch ihrer Bezeichnung durch ihn selbst als ‚Hymnos' (Thuc. 2,42,2). Weiterhin sollen aus seiner Rede die unverzichtbaren Themen des Autochthonie-Mythos und der athenischen Geschichte ausgefallen sein (144). Diese gehören jedoch nicht in das von ihm behandelte Thema: die Erklärung der Größe Athens aus seiner Verfassung und Lebensweise (Thuc. 2,36,4). Gerade dem platonischen Autochthonie-Mythos mit seinem naturalistischen Pathos wird nun von den Autoren eine erzieherische Bedeutung gegeben, weil in ihm die ersten Athener von den Göttern in Techniken belehrt worden sind (238 b1-6). Dies soll eine allgemeine Lernfreude bei ihren Nachkommen erregt haben (168f). Doch von einer solchen ist in der platonischen Beschreibung der Athener – im Gegensatz zur perikleischen – nirgends die Rede. Die Techniken, in denen die Athener ‚erzogen' wurden, sind als subalterne gekennzeichnet.14 Der Zielpunkt der ganzen Argumentation, in dem alle vorangehenden Erwägungen wie vom Gewicht eines Schlusssteins zusammengehalten werden sollen, ist der Versuch, in der Darstellung der athenischen Geschichte – unter allen zugegebenen Verzerrungen – ein tiefer liegendes Gesetz evident zu machen als Gegenentwurf zur thukydideischen Historiographie, die Theorie einer auf psychodynamischen Kräften begründeten Ordnung des Geschichtsprozesses gegen das Bild eines irrationalen Verlaufs (182-213). Danach liegt ihr die Seelenteilungslehre und das Schichtenmodell der Politeia mit seinen Verfallsstufen (Buch VIII und IX) zugrunde. Die Athener verkörpern als Autochthone das φιλομαθές, die anderen Griechen – mit Barbaren vermischt – das θυμοειδές, die Völker des Perserreichs das φιλοχρήματον bzw. das ἐπιθυμητικόν (nach Rep. 435e-36a). Im Idealzustand in der Zeit der Perserkriege waren die Athener „die ‚Wächter' der Welt" (203). Doch aus Neid (φθόνος) wandten sich die Kampfgenossen gegen sie, und mit dieser Zwietracht der oberen Seelenkräfte begann der Niedergang, der sich dann im Bündnis der mittleren mit der unteren fortsetzte. Diese Aufsehen erregende Deutung mit einer aktuell anmutenden Globalisierung platonischen Staatsdenkens hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Seelenteilungslehre und Staatsentwurf sind Herrschaftsmodelle. Im Idealzustand wird kein Krieg gegen die untere Kraft geführt. Die Athener werden im Menexenos nicht als φιλομαθεῖς bezeichnet oder beschrieben; die angeblich reinen Vernunftwesen geraten mit sich selbst in Bürgerkrieg (243 e1f) und retten den Perserkönig, den Vertreter des schlechtesten Seelenvermögens, vor dem mittleren, den Lakedämoniern (246 e1f). Wo ist da die versprochene Ordnung des historischen Prozesses? – Interessant bleibt bei dieser unhaltbaren Konstruktion allerdings der darin enthaltene allgemeine Ansatz, die Geschichte des Menexenos als Entgegnung auf die thukydideische Geschichtsschreibung zu sehen (196). Er ist jedoch in anderer Richtung am Text zu entwickeln. 15 Die Autoren haben mit einer vom Ziel her bestimmten, auf Kohärenz bedachten weitläufigen, wenn auch nicht immer widerspruchsfreien Argumentation ein spektakuläres Ergebnis erreicht. Der konsequent ungenaue und selektive Umgang mit den Gegenständen versagt diesem Versuch, der als Feuerwerk erscheinen mag, die bleibende erhellende Wirkung.
Notes:
1. P. Friedländer, Platon II, Berlin 1957, 201.
2. R. Clavaud, Le Ménexène de Platon et la rhétorique de son temps, Paris 1980, 37-77.
3. Nahe steht: I. v. Loewenclau, Der platonische Menexenos, Stuttgart 1961. - In ihrer Linie neuerdings auch M. Tulli, „Ethics and History in Plato's Menexenus", in: Plato Ethicus, Philosophy is Life, hg. v. M. Migliori et al., St. Augustin 2004, 301-14.
4. H. Dittmar, Aischines von Sphettos, Berlin 1912, 19-22.
5. Ch. H. Kahn, „Plato's Funeral Oration. The Motive of the Menexenus", ClPh 58, 1963, 231; M. M. Henderson, „Plato's Menexenus and the Distortion of History", Acta classica 18, 1975, 30.
6. B. Rosenstock, „Socrates as Revenant: A Reading of the Menexenus", Phoinix 48, 1994, 331-47.
7. L. Dean-Jones, „Menexenus – Son of Socrates", ClQu 45, 1995, 51-7.
8. Clavaud, Le Ménexène, 48-66.
9. In Prot.329 a4-7 sagt Sokrates nicht, dass die Redner (unter ihnen Perikles) auf eine Frage nur ihre Rede wiederholen können (102), sondern dass sie eine neue lange halten.
10. K. Popper, The Open Society and its enemies, London 1995, 186f.
11. Die Athener verzichten nicht auf „jedes" μάθημα in kriegerischen Vorbereitungen, weil sie Mut haben (118), sondern überlassen es in ihrer offenen Stadt den möglichen Feinden, sich ein Bild zu machen (Thuc. 2,39,1; vgl. 40,2).
12. C. Eucken, „Die Doppeldeutigkeit des platonischen Menexenos", Hyperboreus 9, 2003, 44-55.
13. Vgl. J. Th. Kakridis, Der thukydideische Epitaphios, München 1961, 112-14.
14. Vgl. die auf φρόνησις der Bürger angelegte Gründung Urathens durch die Götter in Tim. 24 c/d und Criti. 109 c/d sowie in Prot. 322 a-d die Unterscheidung der πολιτικὴ τέχνη von der δημιουργικὴ, die die Götter im Menexenos die Athener lehren.
15. C. Eucken, „Thukydides und Antiphon im platonischen Menexenos", Göttinger Forum für Altertumswiss. 11, 2008, 7-51.
Eine erhellende Rezension, von der man mehr lernt als vom rezensierten Buch.
ReplyDeleteDr. Wolfram Brinker, Universität Mainz, Deutschland