Reviewed by Martin Avenarius, Universität zu Köln (ius-romanum@uni-koeln.de)
Der Gedanke, an die wechselvolle Geschichte des antiken römischen Rechts die Fragestellung heranzutragen, inwieweit etwa Wandlungen von Richtigkeitsvorstellungen, Änderungen in der juristischen Begrifflichkeit oder Neuerungen im Spektrum der Rechtsschutzinstrumente auf den Wechsel grundlegender Paradigmen zurückzuführen sind, ist überaus reizvoll. Er durchzieht die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, welcher aus einem 2011 in Oxford abgehaltenen Kolloquium hervorgegangen ist. In einer Einleitung (1-8) führt Boudewijn Sirks als Herausgeber in das Rahmenthema ein und erklärt, leitender Gedanke seien im weitesten Sinne Perspektivenwechsel, die sich in der Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts der Antike beobachten ließen. So kennzeichne der den Bandtitel prägende Ausdruck „nova ratio" in einzelnen Quellentexten, dass eine Rechtsfrage unter einem neuen Gesichtspunkt betrachtet und einer neuen Bewertung zugeführt wird. Der Titel verrät aber zugleich, dass es bei dieser auf das Detail gerichteten Sichtweise nicht bleiben soll. Vielmehr werden Paradigmenwechsel im weiten Sinn in Betracht gezogen, welche die Regelungen des römischen Rechts oder der Umgang mit demselben durchlaufen haben. In diesem Sinn weist Sirks darauf hin, dass die Vorstellung vom Wandel der Paradigmen im Sinne von „Grundauffassungen", wie sie Thomas Kuhn maßgeblich geprägt hat, sicherlich auf die römische Rechtswissenschaft übertragen werden kann. Es liegt nahe, dass die Untersuchungen vom älteren republikanischen Recht ausgehen und jeweils fragen, inwieweit Veränderungen aufgetreten sind, welche als paradigmatisch erscheinen. Sirks nennt verschiedene Neuerungen in den Bestimmungen des römischen Rechts und verknüpft mehrere davon mit dem bedeutenden Entwicklungsschritt, den die Aufnahme hellenistischer Philosophie mit sich brachte, wobei er vor allem an die stoische Philosophie denkt. In ihrem Beitrag „The nova clausula Iuliani – a change of paradigm in the pretorian law of succession?" (9-31) zeichnet Ulrike Babusiaux einen Ausschnitt aus der Entwicklung des auf die Weitergabe von Vermögen innerhalb der hierarchisch konzipierten Familie abzielenden Erbrechts zu einem solchen nach, das die Interessen außenstehender Individuen schützte und die zivile Erbfolge insoweit korrigierte. Ausgehend von der abschließenden Redaktion des prätorischen Edikts durch Julian beschreibt sie, wie der Jurist prätorische Bestimmungen über die bonorum possessio, die vom zivilen Erbrecht bislang grundsätzlich unterschieden worden waren, in einem neuen Edikt zusammenfasste, wodurch sich der Gegensatz zwischen ziviler Erbfolge und prätorischen Regelungen abmilderte. Auf die Systematik der Vermögensnachfolge, die Julian im Wege der Integration der Regelungen verschiedenen Ursprungs schuf, nehmen die Quellen teilweise mit dem Ausdruck „nova clausula" Bezug. Die Verfasserin stimmt Biondi mit der Auffassung zu, dass dieser Schritt eine Verfestigung des Rechts der bonorum possessio bewirkt habe.1 Verschiedene in dem Beitrag entwickelte Feststellungen laden dazu ein, den Bogen zu der von Julian neu begründeten Rechtsquellenlehre sowie zu den systematischen Folgen derselben zu schlagen, nämlich zu der Erstreckung der institutionellen Ordnung des zivilen Rechts auf die prätorischen Schöpfungen und zu dem die bisherige Zweiteilung der Rechtsquellen zurückdrängenden systematischen Modernisierungsschritt, den die Gaius-Institutionen unter dem Einfluss Julians aufweisen, der – entwicklungsgeschichtlich ältere – pseudo-ulpianische liber singularis regularum dagegen noch nicht.2 Roberto Fiori behandelt in seinem Aufsatz „Rise and fall of the specificity of contracts" (33-49) die Bedeutung der Verwissenschaftlichung der römischen Jurisprudenz für die Kontroversen zwischen den Rechtsschulen der klassischen Zeit, und zwar mit Rücksicht auf das Vertragsrecht und die daran anknüpfenden Rechtsschutzinstrumente. Er zeichnet den Weg der allmählichen Ausdifferenzierung der Vertragstatbestände nach, die in der klassischen Zeit zum Numerus clausus regelhaft gefasster Vertragstypen führt. Von dieser Entwicklungsstufe gehen die bekannten Diskussionen aus, die Juristen in der Kauf-Tausch-Kontroverse oder um die rechtliche Qualifikation des Werklieferungsvertrags führten. Fiori zeigt, wie bestimmte Konstellationen, die infolge des formalen Verständnisses der Vertragstatbestände vom System nicht erfasst wurden, durch vordringende Einrichtungen wie die Durchsetzbarkeit des Innominatrealkontrakts und das agere praescriptis verbis aufgefangen wurden. „'My Lord, save me from my father!' Paternal power and Roman imperial state" (51-61) lautet der Titel von Johannes Platscheks Abhandlung, in der der Wandel des römischen Familienbegriffs unter besonderer Berücksichtigung der Veränderung von Bedeutung und Tragweite der väterlichen Gewalt erörtert wird. Nachdem das ältere Recht eine absolute Unterwerfung des Hauskindes unter die patria potestas gekannt hatte, welche sich z.B. auf Eingehung und Fortbestand einer Ehe erstreckt hatte, kam es später zur Aufwertung der Individualität auch für das Recht und zur Durchbrechung der väterlichen Hausgewalt durch staatliches Recht, auf das sich zunehmend auch Hauskinder berufen konnten. Der Verfasser behandelt die aufkommende Praxis der Anrufung staatlicher Gewalt gegen die häusliche. Sein wichtigstes Beispiel ist die Begrenzung des Rechts eines paterfamilias, die seiner Gewalt unterworfene Tochter aus deren Ehe zurückzurufen. Platschek schildert den allmählichen Eingang der Richtigkeitsvorstellung, dass eine harmonische Ehe nicht auf diese Weise auseinandergerissen werden dürfe, in das Recht (Ulpian 71 ad ed. D. 43,30,1,5). Für die Interessenlage und insbesondere die dem – grundsätzlich bestehenden – Recht des Vaters entgegenstehenden Argumente stellt er den Streit um die Folgepflicht der Ägypterin Dionysia dar (P. Oxy. II 237), die bei einem römischen Magistrat Rechtsschutz sucht, und zeigt, dass auch die Familienstrukturen in der Provinz Ägypten dem Wandel der Überzeugungen und damit dem zunehmenden Eingriff der staatlichen Gewalt unterworfen waren. Im Rahmen der Bandbreite, in der das Rahmenthema verstanden werden kann, unterzieht Ingo Reichard einen besonders eng zugeschnittenen, technischen Gegenstand der Betrachtung. Sein Beitrag „The creation of the stipulatio Aquiliana (first century BC) – a change of paradigm?" (63-86) verfolgt den Gedanken, dass die Entwicklung der Jurisprudenz zu einer Wissenschaft zu einem Paradigmenwechsel führte, an einem Beispiel aus dem Vertragsrecht. Der Verfasser erörtert Struktur und Wirkung der Novation, und zwar am Beispiel der Schaffung der stipulatio Aquiliana. Diese Einrichtung ermöglichte, dass mehrere, aus verschiedenen Rechtsgründen entstandene Forderungen zunächst noviert und damit abstrakt anerkannt wurden, bevor der Gläubiger anschließend förmlich die Erfüllung anerkannte. Das Thema, das Reichard u.a. ausgehend von Gaius inst. 3,176-179 erörtert, bietet ihm Anlass zur Auseinandersetzung mit denjenigen Standpunkten Flumes, die ein Licht auf dessen Verständnis von der Novation werfen. Hierzu gehört die im Hinblick auf Obligationen geäußerte Auffassung dieses Autors,3 die Vorstellung von Rechtspositionen und Rechtsverhältnissen sei dem römischen Rechtsdenken fremd gewesen. Der Verfasser zweifelt sie mit guten Gründen an. Leider wird die Arbeit Effer-Uhes von 2008,4 in der Flumes Ansichten ausführlich erörtert worden sind, nicht berücksichtigt. Gianni Santucci behandelt in seinem Aufsatz „The equality of contributions and the liability of the partners" (87-105) Veränderungen in der Begrifflichkeit der Gesellschaft (societas) und insbesondere den u.a. durch wirtschaftliche Interessen geförderten Wandel zu einem Konsensualvertragsverhältnis. Ausgehend von der bei Gaius inst. 3,149 referierten magna quaestio stellt der Verfasser den Widerstreit zwischen der älteren, noch von Q. Mucius Scaevola vertretenen Auffassung dar, nach der das Wesen der Gesellschaft verlangte, dass der Anteil eines Gesellschafters am Gewinn seinem Anteil am möglichen Verlust entsprechen müsse, und der von Servius entwickelten, vordringenden Meinung, nach der ein Gesellschafter sogar ausschließlich am Gewinn beteiligt sein könne, nicht aber am Verlust. Dieser Standpunkt ermöglichte die Erbringung von Arbeitsleistungen als Einlage und machte die Rechtsform der Gesellschaft flexibler einsetzbar. Es handelt sich um ein wichtiges Beispiel für eine der zahlreichen Neuerungen, die sich aus Servius' grundsätzlich neuer Herangehensweise an das Recht ergaben. Seiner Abhandlung „From non-performance to mistake in contracts: the rise of the classical doctrine of consensus" (107-132) schickt Martin Schermaier eine relativ ausführliche Einführung in methodische Grundsätze voraus. Dabei wendet er sich u.a. der Arbeitshypothese von Behrends zu, nach der der Gegensatz zwischen den beiden Rechtsschulen der hochklassischen Zeit im Kern auf den Methodenwechsel zurückgeführt wird, der in der späten Republik zwischen der vorklassischen Jurisprudenz der veteres und dem durch Servius begründeten, durch Wissenschaft gekennzeichneten, spezifisch klassischen Rechtsdenken stattfand. Leider wird dieses komplexe Modell stark vereinfacht referiert, und so verrät die Kritik Missverständnisse. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die – Schermaiers Eindruck zum Trotz – ausgeprägte Offenheit des Modells für die Historisierung der einzelnen Entwicklungsschritte des Rechtsdenkens. Die Vorstellung, hier werde dogmatische Uniformität erwartet, verkennt sowohl, dass es sich um eine Arbeitshypothese handelt, die ständiger Überprüfung ausgesetzt ist, als auch den Reichtum an durch sie vermittelten Einsichten. Schermaiers eigentliches Thema ist der Wandel des consensus-Begriffs vom Einverständnis zur Übereinkunft. Er beschreibt, wie, hiervon ausgehend, eine allgemeine Vertragstheorie entstanden sei, auf deren Grundlage dann die Rechtsfolgen des Vertragsbruchs dogmatisch ausgearbeitet werden konnten. Das Aufkommen dogmatischer Strukturen, an denen es zuvor gefehlt hatte, zeigt der Verfasser am Beispiel des Irrtums im Vertrag. Er meint schließlich, Ulpian habe offenbar den error als Grundlage für das Scheitern des consensus aufgefasst, und sich damit dem Standpunkt angenähert, dass jeder consensus aus einzelnen Willensakten bestehe. In der von ihm aufgeworfenen Frage, welche Willenstheorie womöglich um 200 n. Chr. hier Eingang gefunden haben könnte, zieht Schermaier bestimmte philosophische Konzepte in Betracht. Vielleicht lohnte auch die Überlegung, ob ein entsprechendes Konzept bereits im Rechtsdenken etabliert gewesen sein und z.B. in Julians voluntas-Konzept bestanden haben könnte. In seinem Beitrag „Change of paradigm in contractus" (133-162) beschreibt Boudewijn Sirks schließlich einen grundsätzlichen Wandel im Vertragsbegriff. Ausgehend von einem im älteren Recht zugrundegelegten äußeren Verhalten, das teilweise in formalen Handlungen hatte bestehen müssen, beschreibt der Verfasser eine Orientierung auf den motus animi als entscheidenden Gesichtspunkt hin, welche er mit der Rezeption stoischer Lehren in das Rechtsdenken erklärt. Er meint, so sei die spätere Auffassung entstanden, dass Realverträge und formale Akte immer mit einer Übereinkunft (conventio) einhergingen. Sirks zeichnet einen Bedeutungswandel des Ausdrucks „contractus" nach, von der einseitig betriebenen „Annäherung" zum zweiseitigen Rechtsakt, wie er Gaius' Systematisierung des Obligationenrechts zugrundeliegt. Die Beiträge zeigen, dass innerhalb von etwa zwei Jahrhunderten im Übergang zwischen Republik und Prinzipat wesentliche kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen eintraten, die auf das Recht ausstrahlten. Diese Veränderungen fanden in Wirtschaft und Gesellschaft statt und hingen selbstverständlich auch mit der territorialen Ausdehnung der Herrschaft Roms und der Begegnung mit neuen religiosen Konzepten zusammen. Die wichtigsten Einflüsse auf das Recht dürften allerdings, wie mehrere der Aufsätze abermals zeigen, von der Begegnung Roms mit griechischer Philosophie ausgegangen sein. Von ihren Traditionen findet in dem Band ganz überwiegend die Stoá Berücksichtigung, in deren Lehren Anstöße zu bestimmten Entwicklungen gesehen werden. Im Lichte dieser Konzentration auf stoische Einflüsse ist vielleicht Sirks' Ansicht zu verstehen, jedenfalls seit den Tagen von Q. Mucius sei das Recht nicht nur die Kunst gewesen, Gerechtigkeit korrekt zu verwirklichen, sondern sogar eine Wissenschaft von ius und iustitia (8). Hier wird der zweifellos in der Tradition stoischer Lehren stehende Mucius als Neuerer wahrgenommen, doch hat Cicero in aller Deutlichkeit mitgeteilt, dass dieser Jurist für die herkömmliche Jurisprudenz der veteres stand, während das eigentlich Neue, nämlich die Behandlung des Rechts als Wissenschaft (ars), erst durch Servius begründet wurde (Brut. 41,152). Und tatsächlich erweist sich an mehreren in den einzelnen Beiträgen untersuchten Gegenständen Servius als Initiator neuer Konzepte. Auch Julian, der im 2. Jahrhundert als Reformator des hochklassischen Rechts auftrat, kommt verschiedentlich angemessen zur Geltung. Die anregenden Beiträge lassen den Leser mit der Frage zurück, warum die überzeugend herausgearbeiteten Veränderungen insbesondere dann, wenn sie mit bestimmten Juristen verbunden werden konnten, nicht noch eingehender in den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang gerückt worden sind. Dies hätte freilich erfordert, den Blick von der Entwicklung bestimmter Rechtseinrichtungen zu lösen und auf die Wandlung des Rechtsdenkens insgesamt zu richten, wozu das Rahmenthema womöglich nicht explizit aufgefordert hat. Der Leser, der offen ist für die Überlegung, ob die verschiedenen herausgearbeiteten Entwicklungen nicht vielleicht in einem Zusammenhang gestanden haben könnten, wird sich fragen, ob nicht viele der einzelnen Entwicklungsschritte, zusammen genommen, als Hinweise auf grundsätzliche, umfassende Paradigmenwechsel verstanden werden könnten, die sich z.B. im Wandel der Rechtsquellenlehre oder methodischer Grundüberzeugungen geäußert hätten. Von hier aus wäre es nur ein kleiner Schritt zur Diskussion des Gegensatzes zwischen dem vorklassischen und dem klassischen Rechtsdenken sowie zur kritischen Erörterung, inwieweit hier vielleicht durchaus Traditionen zu beobachten sind, welche, wenn sie auch einer kohärenten Entwicklung unterworfen waren, ihre jeweilige Eigenart nicht aufgaben.5 Verschiedene Beiträge des Bandes tragen zu dieser Diskussion bei, vielleicht ohne dass die Verfasser dies beabsichtigt haben.
Notes:
1. Biondo Biondi, Diritto ereditario romano. Parte generale, Milano 1954, 140-142.
2. Martin Avenarius, Il „liber singularis regularum" pseudo-ulpianeo: sua specificità come opera giuridica altoclassica in comparazione con le „Institutiones" di Gaio, in: Index 34 (2006), 455-477 (468-470).
3. Werner Flume, Rechtsakt und Rechtsverhältnis, Paderborn 1990, 23.
4. Daniel Oliver Effer-Uhe, Die Wirkung der condicio im römischen Recht, Baden-Baden 2008.
5. Grundlegend Okko Behrends, Institut und Prinzip, Göttingen 2004.
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