Reviewed by Jan R. Stenger, University of Glasgow (jan.stenger@glasgow.ac.uk )
Die hier anzuzeigende Monographie basiert auf einer Habilitationsschrift, die Michael Schramm an der Universität Leipzig eingereicht hat. Ihr Thema ist die Philosophie der Freundschaft im Neuplatonismus, doch behandelt sie darüber hinaus zahlreiche weitere Facetten sowohl des politischen Denkens als auch der Sozialphilosophie dieser intellektuellen Bewegung der Spätantike. Aus praktischen Gründen beschränkt sich die Untersuchung auf das dritte und vierte Jahrhundert und hierbei auf eine Auswahl von vier Autoren, nämlich Plotin, Jamblich, Themistios und Kaiser Julian. Schon diese Zusammenstellung verdeutlicht, dass es Schramm nicht allein um die Theorie ‚professioneller' Philosophen geht, sondern ebenso um Freundschaftskonzepte von im praktischen und politischen Leben stehenden Intellektuellen. Eben dieser Punkt, die Praxiskomponente sozialer und politischer Beziehungen, verortet die Studie in der aktuellen Forschung zum Neuplatonismus, die im Gegensatz zu früheren Untersuchungen betont, dass die spätantiken Neuplatoniker weit davon entfernt waren, sich auf Metaphysik und die Vervollkommnung des Individuums zu beschränken, und sich gleichermaßen der politischen Philosophie verschrieben. Auf den Archegeten dieses Ansatzes, Dominic O'Meara,1 beruft sich Schramm denn auch explizit und stellt seine Monographie in dieses Paradigma (1f.), wobei er mit der Freundschaft ein Element ins Zentrum stellt, dessen Relevanz bisher nicht erfasst worden ist. Insofern beansprucht er, eine Forschungslücke zu füllen. Mehr noch, die Kernthese ist, dass der Freundschaftsbegriff ein, wenn nicht der Zentralbegriff der politischen Philosophie der Neuplatoniker ist und letztlich alle menschlichen Sozialverhältnisse umfassend auf den Nenner bringt. Die Philosophie der Freundschaft sei identisch mit der Sozialphilosophie (11f.). Wie die Interpretation der einschlägigen Texte zeigt, zieht dies jedoch nicht ein Ignorieren der Metaphysik nach sich; ganz im Gegenteil ist einer der Hauptgedanken des Buches, dass die neuplatonische Konzeption der politisch-sozialen Freundschaft nicht ohne ihre metaphysische Fundierung zu verstehen ist (13). Die Eingrenzung der Untersuchung auf das dritte und vierte Jahrhundert und eine Auswahl von vier Autoren (6–8) ist aus praktischen Erwägungen ohne Zweifel gerechtfertigt, zumal die Monographie beträchtlichen Umfang hat. Andererseits führt dies dazu, dass die Freundschaftskonzeption christlicher Denker dieser Zeit oder die Darstellung der Philia in Eunapios' Philosophenviten unberücksichtigt bleiben. Sie hätten ebenso wie spätere Neuplatoniker, die wichtiges zur Philia zu sagen haben (beispielsweise Proklos, Simplikios, Marinos), helfen können, die Beobachtungen zu kontextualisieren, selbst wenn es sich nicht immer um theoretische Reflexionen handelt. Den Anfang der Darstellung macht ein theoretisches Kapitel, das die Fragestellung klar formuliert und Zeugnis für Schramms reflektiertes Vorgehen ablegt, indem es heuristische Kategorien etabliert und auf Gattungsunterschiede zwischen den Texten aufmerksam macht (1–18). Daran schließen sich vier chronologisch arrangierte Kapitel zu den einzelnen Autoren an. Deren wachsender Umfang deutet bereits an, dass Plotin eher die Grundlegung der weiteren philosophiehistorischen Darstellung bildet, während der Schwerpunkt auf Themistios und Julian liegt. Eine klare Zusammenfassung der Hauptergebnisse (444–453) sowie eine umfangreiche Bibliographie runden das Werk ab. Ohne auf Details einzugehen, seien hier einige wichtige Beobachtungen genannt. Bei Plotin ist die entscheidende Neuerung, dass seine Freundschaftstheorie die menschliche Philia in eine metaphysische Theorie des Aufstiegs zum Einen integriert und darüber hinaus die Freundschaft gemäß der dualen Natur des Menschen in eine des inneren Menschen und eine des äußeren Menschen differenziert (62). Es handelt sich um das Verhältnis der rationalen Seele zum Geist resp. das der nicht-rationalen Seele zum Körper. Dadurch, dass die Freundschaft in die metaphysische Hierarchie eingebunden wird, wird der Begriff auf jeder Ebene für das Verhältnis von Einheit und Vielheit relevant. Jamblich führt die Synthese verschiedener Schultraditionen – Platonismus, Aristotelismus, Stoa – noch weiter als Plotin, folgt ihm jedoch in der Integration des Freundschaftsbegriffs in das hierarchisch gegliederte System der Metaphysik (177). Schramm konzentriert sich hierbei auf die pythagoreische Freundschaftsbeziehung sowie das Verhältnis zwischen Freundschaft und Theurgie in Jamblichs Denken. Jamblich betont vor allem die metaphysisch-kosmologische Freundschaft, welche die Zusammengehörigkeit von Makro- und Mikrokosmos und deren innere Dynamik begründet. Im engeren Sinne erweist sich die politische Freundschaft und Gemeinschaft als ein Abbild der Schul- oder Kultgemeinschaft. Politisch relevant wird die Freundschaft in der Erziehung, Gesetzgebung und politischen Beratung. Bei Themistios tritt dann, entsprechend seinem politischen Wirken, der Praxisaspekt stärker in den Vordergrund, auch wenn die Theorie vorgeordnet bleibt. Gegenüber den Neuplatonikern fehlt das Konzept der höheren Freundschaft des Geistes, die auf einer höheren Tugendstufe beruht und keines sozialen Zusammenseins bedarf (298). Die Tugenden in der Philia und der Philanthropie erstrecken sich lediglich auf den politischen Bereich, und dementsprechend richtet sich Themistios' Erziehungsprogramm allein auf den tugendhaften Bürger und Beamten. Das Kapitel zu Kaiser Julian interpretiert sowohl dessen Reden, die für seine Theorie der Königsherrschaft relevant sind (or. 3, 6, 7), als auch seine Ansichten zur Freundschaft in der Trostrede an sich selbst (or. 4) und seinen Briefen. Hierbei wird in erster Linie die Frage erörtert, ob Julians Politik der Freundschaft eher als reaktionäre Rückkehr zur traditionellen politischen Ordnung, als theokratische Herrschaftslegitimation oder als Demokratisierung der Macht zu begreifen sei (302f.). Aus den untersuchten Texten folgert Schramm, dass Julians Politik der Freundschaft ein Ensemble aus Bildungs-, Religions- und politischer Reform sei, wobei Bildung und Erziehung das entscheidende Instrument sind, den Aufstieg zu Gott herbeizuführen. Ähnlich wie bei Themistios spielt die Philanthropia eine Hauptrolle, insofern nicht allein der Herrscher, sondern alle Menschen verpflichtet sind, die göttliche Philanthropia im Sinne einer Homoiosis („Angleichung") an die Götter nachzuahmen. Grundlage dafür sind die Tugenden, aufgefasst gemäß der scala virtutum Jamblichs. Auf Jamblich geht auch die Idee einer Freundschaft aller mit allen zurück, durch welche die Hierarchie der Seinsstufen strukturiert wird. Schramms Untersuchung besitzt große Vorzüge und Verdienste. Ihre Fragestellung ist äußerst fruchtbar und vermag einen Aspekt zu beleuchten, der in der Forschung zum Neuplatonismus nicht gebührend gewürdigt worden ist. Die Interpretationen der Einzeltexte basieren auf einer genauen Kenntnis und Vertrautheit und machen auf zahlreiche Kernpunkte der Ethik und politischen Philosophie aufmerksam. Nicht zuletzt ist es verdienstvoll, dass Schramm einige zu Unrecht vernachlässigte Werke wie Themistios' Rede über die Freundschaft (or. 22) und Julians Trostrede an sich selbst bei der Abberufung des Salutius (or. 4) analysiert, was, so ist zu hoffen, zu weiterer Forschung anregt. Eine große Stärke der Interpretationen liegt darin, dass sie die vielfältigen Beziehungen, aber auch Divergenzen zwischen den verschiedenen Theorien der Philia luzide herausarbeiten und so unter anderem aufzeigen, wieviel die neuplatonischen Denker, was die Freundschaft angeht, sowohl Platon als auch Aristoteles verdanken. Insbesondere in den Reden des Themistios und Julians kann Schramm überzeugend nachweisen, dass der metaphysische Freundschaftsbegriff auch sozial und politisch relevant ist, indem er zahlreiche persönliche Beziehungen fundiert, und ferner, dass beide Autoren keine bloßen Amateurphilosophen sind. Durchweg ist die Arbeit mit der neueren Forschung vertraut und in einem gut lesbaren Stil präsentiert.2 Ein Haupteinwand lässt sich gegen die Anlage der Untersuchung und damit gegen die Fragestellung vorbringen: Schramm ist gewiss zuzustimmen, dass, wenn man den Begriff der Philia in den Blick nimmt, die Ontologie der Neuplatoniker, die Tugendlehre, Erziehungskonzepte oder, im Falle des Themistios und Julians, die Theorie der Königsherrschaft zwangsläufig in den Blick genommen werden müssen. Da er jedoch die Philia als das Kernkonzept der neuplatonischen Ethik und politischen Philosophie etablieren möchte, verliert Schramm oftmals das eigentliche Zentrum, den Freundschaftsbegriff, aus den Augen und stellt äußerst detailliert weite Teilbereiche neuplatonischen Denkens dar, ohne dass der Bezug zur Freundschaft eng wäre. So widmet er sich im Kapitel zu Themistios eher dessen Schulzugehörigkeit, der Theorie des Kaisertums und der Philanthropia, im Kapitel zu Julian dessen Vorstellungen von Herrschaft und speziell der Frage, ob der Kaiser zwischen einer theokratischen und einer demokratischen Theorie des Königtums schwanke. Auch wenn die kaiserliche Philanthropia bei Themistios und Julian sicherlich Überschneidungen mit der Philia hat, erscheint es problematisch, beide so stark miteinander zu assoziieren, wie Schramm es tut. Insbesondere bei Themistios ist die Philanthropia eine Prärogative des Herrschers, die spezifisch herrscherliches Handeln umfasst und letztlich alle Tugenden umschließt, während das Element der Reziprozität weitgehend abwesend ist. Die ausführliche Behandlung vieler Teilaspekte der Sozialphilosophie und der politischen Theorie könnte ohne große Verluste gestrafft werden, da einiges von dem, was Schramm diskutiert, schon in der jüngeren Forschung gesehen worden ist. Beispielsweise hat Julians sog. Mustermythos gerade in den letzten Jahren sehr starke Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so dass Schramm hierzu wenig Neues beitragen kann. Sein Anspruch, den Begriff der Philia als Schlüssel zur neuplatonischen Sozialphilosophie zu erweisen, führt also zu weit vom Focus ab. Ferner erscheint es problematisch, den philosophischen Redner Themistios unter der Schulbezeichnung ‚Neuplatonismus' zu subsumieren, da er, nicht allein im Hinblick auf die Freundschaft, oft weitaus stärker auf Platon, Aristoteles, die Stoa und Dion von Prusa zurückgreift als auf genuin neuplatonisches Gedankengut. Zudem fehlt ihm die für den Schulzusammenhang konstitutive persönliche Verbindung zu den Repräsentanten des Neuplatonismus. Trotz erkennbaren Konvergenzen sollte man hier nicht zu stark harmonisieren, da die Unterschiede gerade zu Julians Theorie des Königtums beträchtlich sind. Schließlich wäre es sowohl bei Themistios als auch bei Julian lohnend gewesen, stärker die Praxis der Freundschaft einzubeziehen und mit der Theorie zu vergleichen. So hätte die Analyse von Julians Philosophie der Freundschaft von einem intensiveren Studium seiner Briefe, aber auch zeitgenössischen Quellen (Libanios, Ammian) profitieren können. Hier kann die weitere Forschung auf dem Fundament von Schramms sorgfältiger Textanalyse aufbauen. Insgesamt handelt es sich um eine kenntnisreiche und verdienstvolle Untersuchung der politischen Theorie und Sozialphilosophie im Neuplatonismus, die eine Forschungslücke schließt. Die zu stark gemachte Hauptthese, dass Philia der Leitbegriff in diesem Feld sei, wird jedoch nicht überall auf Zustimmung stoßen.
Notes:
1. Dominic J. O'Meara, Platonopolis: Platonic Political Philosophy in Late Antiquity, Oxford 2003.
2. An neueren Titeln zur Theurgie sind nachzutragen: Ilinca Tanaseanu-Döbler, Theurgy in Late Antiquity: The Invention of a Ritual Tradition, Göttingen 2013, und Crystal J. Addey, Divination and Theurgy in Neoplatonism: Oracles of the Gods, Farnham 2014. Zu Themistios' und Julians politischer Theorie siehe jetzt auch Simon Swain, Themistius, Julian and Political Theory under Rome: Texts, Translations and Studies of Four Key Works, Cambridge 2013.
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