Reviewed by Alfred Stückelberger, Universität Bern (astueckelberger@bluewin.ch)
Vorbemerkung. Nun ist also der 24. Tagungsband der Reihe ‚Antike Naturwissenschaften und ihre Rezeption' erschienen. Damit blickt die erfolgreiche Institution der AKAN-Tagungen (=Arbeitskreis Antike Naturwissenschaften und ihre Rezeption), die 1989 von Klaus Döring und Georg Wöhrle ins Leben gerufen worden ist, auf ein stolzes Vierteljahrhundert zurück. Sie und weitere ‚Mitstreiter der ersten Stunde' wie Bernhard Herzhoff, Hans-Joachim Waschkies, Klaus Dietrich Fischer und viele Andere hatten das Bedürfnis erkannt, die in der Geschichte der Klassischen Philologie eher vernachlässigten Naturwissenschaften neu zu gewichten. Die Tagungen, die zuerst in Bamberg abgehalten wurden, dann 1995–1999 in Trier und ab 2000 unter der Ägide von Jochen Althoff und Sabine Föllinger mit treuer Regelmässigkeit in Mainz durchgeführt werden, setzen sich zum Ziel, fächerübergreifend—unter Einbezug der Mathematik, der Naturwissenschaften, der Medizingeschichte und der Philosophie—sich mit Themen aus den antiken Naturwissenschaften und der Naturphilosophie auseinanderzusetzen und ihre Wirkungsgeschichte zu verfolgen. Im anzuzeigenden Band sind vier Referate der AKAN-Tagung vom 15. Juni 2013, ergänzt durch drei weitere Beiträge, enthalten. 1. Anna-Maria Kanthak (Berlin) unternimmt in ihrem Beitrag (S.9-45)‚ Περὶ τροφῆς oder: Über Form' (die zunächst irritierende Formulierung des Titels rechtfertigt sich erst am Schluss) den kühnen Versuch, all die allgemein erkannten Schwächen dieser kleinen, wohl späten Schrift des Corpus Hippocraticum1 wie mangelnde Struktur, bis zur Unverständlichkeit aphoristisch verkürzte Sentenzen, inkonsistente Aufzählungen u.a., gerade als besondere Stärken zu erweisen. In minutiöser Formanalyse, mit welcher sie verschiedene Stilmittel nachweist wie ‚Baukastenprinzip', ,Kettenstruktur', ‚Blockstruktur', ‚Netzstruktur' u.a., kommt sie zum Schluss, dass gerade die Formlosigkeit, die an Heraklit erinnernde obscuritas das intendierte Prinzip der Schrift ist, welche ‚offenbar darauf abzielt, ständig die Erwartung des Lesers aufzubauen, um sie sogleich wieder zu zerstören. ... Der Leser muss den Inhalt der einzelnen, zum Teil rätselhaften Sätze erschliessen und das Textpuzzle zusammensetzen' (S.41). Es geht letztlich nicht um den Inhalt, nicht um das Problem der Ernährung, sondern ‚um eine implizite Reflexion über die Modi der Präsentation von Wissen' (S.43). Allerdings ist unter diesem Aspekt schwer zu erklären, dass Galen dieses inhaltlose Formenspiel nicht durchschaut hätte, sondern sich, wie ein nur fragmentarisch erhaltener Kommentar beweist, sehr ernsthaft mit dem Inhalt der Schrift auseinandersetzte, hatte ihn doch immer wieder das grundlegende, vom damaligem Wissensstand her nicht zu erklärenden Geheimnis der Verwandlung von Nahrungsmitteln in Blut, Fleisch, Knochen u.s.w. beschäftigt.2 2. In ihrem Beitrag ‚Der Unsterblichkeitsgedanke im Kontext der Aristotelischen Naturwissenschaft' (S. 47-57) geht Maria Liatsi (Ioannina) von einer Gegenüberstellung aus, nämlich ‚der religiösen Unsterblichkeitsvorstellung einer körperlosen Seele jenseits von Raum und Zeit' einerseits und der ‚Formen irdischer Unsterblichkeit' andererseits, die sich ‚in der Dialektik von Leben und Tod im Kreislauf der Natur' (S.47) manifestiert. Die eine Seite vertritt vor allem Platon im Phaidon u.a.O. mit seinen Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele, die andere Seite kommt am besten zur Geltung in der Schrift des Aristoteles De anima: An der bekannten Stelle 4, 415 a 26—b 7 formuliert er den folgenschweren Gedanken, dass zwar das Individuum nicht am Ewigen und Göttlichen (τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ θείου) teilhaben könne, wohl aber der Art (εἴδει) nach (wobei Aristoteles sorgfältig den Begriff ‚Unsterblichkeit' meidet und von τὸ ἀεί spricht): In der Arterhaltung also, dass ‚ein Tier ein <anderes> Tier hervorbringt, eine Pflanze eine Pflanze' (l.c. a 28f.), oder dass ,ein Mensch einen Menschen zeugt' (Metaph. 8, 1033 b 32)—Liatsi sieht hier mit Recht Anklänge an die Diotima-Rede im Symposion—manifestiert sich ‚die Aristotelische Vorstellung von der biologischen Unsterblichkeit' (S. 51). Dadurch, dass auch Pflanzen und Tiere Anteil an der Seele haben und diese als ‚die erste Wirklichkeitsform eines natürlichen ... Körpers' definiert wird (S. 52), wird die Psychologie auf eine naturwissenschaftliche Ebene gestellt und lässt ,den ... der religiös-mythischen Auffassung ... verpflichteten Begriff der Seele hinter sich zurück' (S. 53). Mit dieser Sicht ist freilich auch eine Beschränkung verbunden, die man erahnt, wenn man an das berühmte sog. Methodenkapitel Part. anim. 1,5, 644 b 23ff. denkt, wo Aristoteles zwar den vergänglichen Dingen der Vorzug zubilligt, ‚da wir ein umfassendes und vielseitigeres Wissen über sie erwerben', ,jenen unvergänglichen Dingen' aber einräumt, ‚dass sie uns doch wegen ihrer Erhabenheit der Erkenntnis lieber sind als alle Dinge unserer eigenen Welt.' 3. Verdienstvoll ist das Anliegen von Giuseppe Squillace (Università della Calabria), mit seinem Beitrag (S. 59-79) ,Menestore di Sibari fonte di Teofrasto. Un botanico di Magna Grecia nelle ricerche del Peripato', die wenig beachtete Gestalt ,des Vaters der Botanik'3 neu zu würdigen. Die zeitliche Einordnung Menestors ist umstritten, da seine Herkunftsbezeichnung als ‚Sybarite' (so Jamblich V. Pyth. 267) nicht erkennen lässt, ob das Sybaris vor der Zerstörung von 510 gemeint ist oder nach seiner Neugründung 445. Je nachdem könnte er den nach Unteritalien geflohenen Pythagoras noch persönlich gekannt haben oder könnte—nach späterer Datierung—mit den Eleaten in Unteritalien in Kontakt gekommen sein (64). Ein weiteres Problem ist die Frage, inwiefern Menestor als Quelle der botanischen Schriften des Theophrast gelten kann, der—neben der kurzen Herkunftsnotiz des Jamblich—die einzigen Testimonien liefert. Squillace zeigt auf, dass Theophrasts Forschungsmethode mehr von der Autopsie und der praktischen Erfahrung ausgeht, die ihm Holzhauer, Zimmerleute, Krämer u.a. vermitteln (S. 68), dass daneben aber das im Peripatos ausgeprägte doxographische Interesse—manifest etwa im Anonymus Londinensis (S. 70f.)—verantwortlich ist für die vielen Rückverweise auf vorsokratische Autoren. Dass sich schriftliche oder mündlich tradierte Spuren von Menestors botanischen Theorien erhalten haben, verdanken wir der intensiven Sammeltätigkeit unteritalischer Philosophen, inbesondere des Aristoxenos von Tarent, der nachweislich Schriften zu Pythagoras und den Pythagoreern verfasst und wohl auch dem Jamblich als Quelle gedient hat. 4. Bei Michael Rathmann, dem Autor des Beitrages (S. 81-123), Tabula Peutingeriana: Bekannte Thesen und neue Forschungsansätze' handelt es sich um einen profunden Kenner der Materie, der sich schon mehrfach eingehend zu kartographischen Themata geäussert hat. Zunächst moniert er, dass die in der Forschung verbreiteten Deutungen der TP als ‚itinerarium pictum' im Sinne des Vegetius, oder als römisch-imperiale Repräsentation oder als Ableger der Agrippa-Karte zu kurz greifen. Ausgehend von den Definitionen zu Beginn der Geographie des Ptolemaios, wo Geographie ‚als Nachbildung des gesamten bekannten Erdkreises' und Chorographie, ‚welche die einzelnen Teilgebiete getrennt voneinander darstellt' (Geogr. 1,1,1) einander gegenübergestellt werden, charakterisiert Rathmann die zwei Darstellungsgattungen (S. 88ff.): Die erste, eigentliche wissenschaftliche Gattung, die in den Karten des Ptolemaios ihren Höhepunkt erreicht hat, ist gekennzeichnet durch die Massstäblichkeit, unter Verwendung mathematischer und astronomischer Hilfsmittel. Die—bis heute wenig untersuchte—chorographische Darstellung dagegen ist kleinräumiger, nicht an geodätische Anforderungen gebunden und verzeichnet je nach Bedarf vielfältige Einzelheiten. Ein Musterbeispiel einer solchen chorographischen Darstellung sieht Rathmann in der—leider unvollendeten—‚kartenähnlichen Skizze' im neu gefundenen Artemidor-Papyrus.4 Er erkennt hier bei den hier eingetragenen Linien (Flussläufen, Strassen), den Vignetten und Bergen typische Merkmale chorographischer Karten. Diese Feststellungen führen zu einer Neuinterpretation der TB, nämlich als eine chorographische Karte (S. 104ff.). Rathmann weist zahlreiche, in einer ‚wissenschaftlichen Karte' unangebrachte Eintragungen nach wie etwa ,his locis scorpiones nascuntur' oder ,in his locis elephanti nascuntur' u.a., die zum Charakter chorographischer Darstellungen passen. Ein vielversprechender neuer Forschungsansatz betrifft die Datierung der TB, nicht die unbestrittene der heute erhaltenen Pergamentrolle (12./13. Jh.) noch die der antiken Endredaktion (um 435), sondern die Suche nach einer Ur-Tabula (S. 107 ff.). In minutiöser Prüfung der um die 4000 Einträge weist Rathmann zahlreiche Spuren verschiedener Zeitstufen nach, die sich über alle Kopiervorgänge erhalten haben und deren älteste in die hellenistische Zeit zurückreichen (S. 109), was ‚für eine Entstehung <der Ur-TP> im Umfeld des Eratosthenes in Alexandria spricht'. Sein Ziel ist es, mit einer systematischen Untersuchung ‚eine möglichst differenzierte Darstellung der TP in ihrer Urversion sowie in ihren Hauptrezeptionsstufen (S. 118)' zu erreichen: Wir sind gespannt darauf! 5. Mit dem Beitrag von Margarethe König (Mainz) (S. 125-142) ‚Die antiken Schriftsteller und die römische Agronomie — Betrachtungen aus archäobotanischer Sicht' meldet sich eine kompetente Archäobotanikerin zu Wort. Sie geht von einigen in einem Gräberfeld bei Mainz gefundenen verkohlten Fruchtkernen und römerzeitlichen Tierknochen aus und kann nachweisen, dass in römischer Zeit gegenüber der eisenzeitlich-keltischen Landwirtschaft ein erheblicher Produktionszuwachs erfolgt ist, was nur durch offensichtlich gut geschulte Produzenten zu erklären ist. Sie listet die vielseitigen Anforderungen an einen Gutbesitzer auf, die in den Agrarhandbüchern von Cato, Varro und Columella vorausgesetzt werden. Dabei stellt sich die in der Forschung umstrittene Frage, inwiefern der ganze Schatz von wissenschatlicher Erkenntnis und agrarwirtschaflicher Erfahrung als praktische, von den Gutsbesitzern tatsächlich benützte Anleitung zu werten ist oder eher—wie die Klage Columellas erahnen lässt (S. 139f.)—eine literarische Bestandesaufnahme darstellt, die sich zum Ziel setzt, die aktuellen Kenntnisse schriftlich zu fixieren. 6. Der Beitrag von Diego De Brasi (Marburg) (S. 143-163) ‚Von Affen und Mädchen: Die „Heraklit-Zitate" im Hippias Major (288E4-289B7) im Licht der griechischen Literatur und Philosophie' widmet sich einem philologischen Problem: Im Hippias Major führt Sokrates in einem Streitgespräch um den Begriff des Schönen das „Heraklit-Zitat" an, ‚dass der schönste Affe hässlich im Vergleich mit dem Menschengeschlecht ist'. Der fast überall akzeptierte Text beruht allerdings auf einer—paläographisch durchaus vertretbaren—Konjektur von Bekker, der statt des in allen Hss. überlieferten ἄλλῳ γένει recht einleuchtend ἀνθρώπων γένει vorgeschlagen hat. De Brasi geht nun ausführlich dem Motiv des Affen-Menschen-Vergleiches nach und führt zahlreiche Beispiele an aus der Lyrik, der alten Komödie sowie aus der philosophischen und biologischen Literatur. Dabei zeigt es sich, dass ganz allgemein Affen mit anderen Tieren verglichen werden und somit die ursprüngliche Lesart ἄλλῳ γένει gerechtfertigt ist. 7. Der Beitrag von Clemens Lunczer (Schorndorf) (S. 165-185) ‚Eagles and Vultures in the Ancient World' stammt von einem ausgewiesenen Ornithologen. Am Beispiel der zahlreichen antiken Bezeichnungen für ‚Adler' und ‚Geier' veranschaulicht er die Problematik, aus heutiger Sicht die einzelnen Gattungen oder Spezies zu identifizieren. In einer Tabelle werden zunächst die unterschiedlichen Identifizierungsvorschläge von Turner (1544) bis Arnott (2007) aufgelistet. Nützlich ist die Vorführung im Bild der heute im Mittelmeerraum lebenden Adler und Geier mit ihren verschiedenen, oft nur bei genauem Hinsehen erkennbaren Merkmalen. In einer sorgfältigen Auswertung der betreffenden Abschnitte der Historia animalium des Aristoteles und der ganz von ihm abhängigen Partien des Plinius gelingt in mehreren Fällen eine präzisere Identifizierung. Dabei muss man sich bewusst sein, dass der antike Betrachter nach anderen, vor allem augenfälligen Merkmalen urteilt und nicht nach heutigen zoologischen Kriterien. So konnten etwa die altersbedingten Veränderungen des Gefieders zu anderen Zuordnungen führen. Im Ganzen aber, so urteilt der Verfasser zuversichtlich, lässt sich die antike Nomenklatur der Gruppe der Adler und Geier recht gut rekonstruieren.
Notes:
1. Jones (Hippocrates 1,339) hatte sie jedoch mit guten Gründen ‚about 400 B.C.' datiert.
2. Vgl. etwa die Schrift Galens De naturalibus facultatibus.
3. So Diels-Kranz 1951 (oder später, nicht 1903) 1, 375 Anm. 12.
4. Mit Recht setzt Rathmann die Echtheit des Artemidor-Papyrus voraus und geht nicht auf den vor allem von einer Seite geführten Streit ein.
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