Reviewed by Bianca-Jeanette Schröder, Ludwig-Maximilians-Universität München (BiancaSchroeder@lmu.de)
Anja Behrendt legt mit diesem Band die leicht überarbeitete Fassung ihrer Dissertation vor, die an der Universität Rostock von Christiane Reitz betreut und 2012 von der Philosophischen Fakultät angenommen wurde. Sie stellt die Frage, ob Cicero in seiner Korrespondenz beim Zitieren griechischer und lateinischer Autoren eine bestimmte Methode anwendet. Untersucht werden diejenigen Dichterzitate, deren Autor gesichert ist und deren Kontext noch bekannt ist, d.h. keine Fragmente, Sentenzen und Bezüge auf nicht mehr bekannte Autoren. Sie analysiert die formale und inhaltliche Integration des Zitates in den Kontext des Briefs und untersucht insbesondere, welchen Einfluss die Bedeutung des ursprünglichen Kontextes des Zitats im Prätext auf den neuen Kontext im Brief hat, d.h. auf welche Weise die "fremde Rede" zur "eigenen Rede" wird und woran das festzumachen ist. Dafür teilt sie die Zitate nach formalen und inhaltlichen Kriterien in unterschiedliche Zitattypen (z.B. wörtlich oder modifiziert; Position im Brief; allgemeiner oder spezieller Aspekt des Prätextes). Behrendt interpretiert achtzehn Briefe1 aus Ciceros verschiedenen Briefsammlungen, in denen die unterschiedlichen Zitiertypen vorliegen, und es zeigt sich, dass Cicero beim Zitieren kein schematisches Verfahren anwendet, dass sich aber bestimmte Regelmäßigkeiten beobachten lassen, wie er die Rezeption des Zitats lenkt. Die Einleitung (I) beginnt Behrendt mit knappen Hinweisen auf die Ambiguität des intertextuellen Phänomens "Zitat", das durch die Integration in einen neuen Kontext aus "fremder Rede" zu "eigener Rede" wird, und geht dann zunächst sehr detailliert auf den Forschungsstand zu den Zitaten in Ciceros Werken insgesamt ein. Wichtig für Kapitel III sind die Ergebnisse der jüngeren Forschung, die eine Reihe von Funktionen von Zitaten innerhalb von Ciceros Werken herausgearbeitet hat, z.B. Aufbau von Nähe oder Distanz zum Adressaten (Betonung von verbindenden Aspekten oder Überspielen von Meinungsverschiedenheiten), Überdecken von Schwachstellen in der Argumentation. Behrendt stellt nun die Frage, ob Cicero diese Funktionen in den Briefen mit einer bestimmten Methode erreiche. In Kapitel II diskutiert Behrendt verschiedene Definitionen von "Zitat", um dann die folgenden Analysen auf Helbigs2 Theorie markierter Intertextualität zu stützen. Ausgehend vom Sender-Empfänger-Modell für die Untersuchung der Kommunikation per Brief legt sie dar, dass der Empfänger im Falle von Zitaten eine doppelte Dekodierung vornehmen müsse, nämlich die des Briefes insgesamt und außerdem die des eingefügten Zitats. In den folgenden Einzelanalysen soll die Rezeption der Zitate im Sinne Stockers3 untersucht werden, der den Rezeptionsvorgang in verschiedene Phasen teilt (a. Desintegration: der Leser bemerkt anhand von bestimmten Auffälligkeiten ("marker") die "fremde Rede"; b. Digression: die Aufmerksamkeit des Lesers richtet sich auf den Prätext und wird vom aktuellen Kontext abgelenkt; c. Reintegration: der Leser verbindet die Informationen, die er während der Ablenkung erhalten hat, mit dem aktuellen Kontext). In den Einzelanalysen in Kapitel III wird dann das Zusammenspiel der "marker" und dieser Phasen untersucht. Da für diesen Ansatz die Interpretation des Prätextes wichtig ist, können Zitate, die nur als Fragmente überliefert sind, in die Untersuchung nicht einbezogen werden (S.56; siehe auch konkret zu den Autoren in der Einleitung S.30). Nach einer knappen Übersicht (S.49) zur Terminologie für die folgenden Einzelanalysen folgt in Kapitel II noch ein Abschnitt zu den "Eigenheiten brieflicher Kommunikation". Auf die verschiedenen Adressaten hat Behrendt bereits in der Einleitung (S.30f.) verwiesen, da die Zitierweise gegenüber verschiedenen Adressatengruppen untersucht werden soll. Hier nun reißt Behrendt einige Details zum antiken Briefverkehr an, u.a. zur allgemeinen Situation (Phasenverzug), zur Funktion (Beziehungspflege, amicitia) und zum Inhalt (Konventionen, Phraseologie, Brieftempus), wobei die Auswahl der Details z.T. etwas willkürlich wirkt (z.B. wird auf S.54 ohne weitere Erläuterungen Catulls carmen 49 zitiert, was nicht recht in den Kontext gehört). Die Alleinstellungsmerkmale von Ciceros Briefen kommen m.E. zu kurz bzw. Ciceros Briefe werden recht allgemein im Rahmen der Gattung Brief abgehandelt (z.T. mit Verweisen auf Forschungsliteratur zu griechischer Epistolographie und zu den Paulus-Briefen). Interessant wäre z.B. in diesem Kontext die weitergehende Frage, ob sich das Zitieren in Briefen eventuell grundlegend vom Zitieren in anderen Gattungen unterscheidet, da ja der Adressat eines Briefs klarer fokussiert werden kann als der einer Rede oder eines philosophischen Traktats. Cicero schreibt ja i.d.R. an Männer, die er kennt, d.h. mit denen er auch schon Gespräche geführt hat, in die ebenfalls Zitate eingeflossen sein können. Außerdem könnte eine Rolle spielen, dass er seine Briefe, anders als z.B. Plinius, nicht selbst veröffentlicht und daher auch nicht zur Veröffentlichung überarbeitet hat. In Kapitel III, das überwiegend der Interpretation der ausgewählten (vollständigen) Briefe gewidmet ist, werden zunächst kurz die verschiedenen Zitattypen und Funktionen von Zitaten benannt. Etwas überraschend beginnt Behrendt mit der Feststellung, dass die meisten Dichterzitate sich "als Ausdruck der urbanitas Ciceros verstehen" lassen (S.59), da die Kategorie der urbanitas in dem zuvor präsentierten methodischen und terminologischen Instrumentarium nur kurz erscheint (S.27) und nicht weiter darauf eingegangen wird. Diese Art der Zitate, die sich vor allem in Briefen an Atticus und Quintus finde, charakterisiere vor allem Personen oder Situationen. Als weitere Funktionen nennt sie: Bestandteil der Argumentation; Ausdruck von "redressive politeness", wie sie Hall4 in einer Reihe von Ciceros Briefen aufgezeigt hat, d.h. die Kompensation beim Vorbringen oder Abschlagen einer Bitte und zur Abmilderung von Kritik; "affiliative politeness", d.h. der Hinweis auf Aspekte, die Adressaten und Absender verbinden; oder auch die Verschärfung von Kritik. Die "Zitiertypen" werden nach formalen und inhaltlichen Kriterien eingeteilt (wörtlich oder modifiziert; vollständig oder nur anzitiert; Position des Zitats im Brief; Einsatz von Zitatmarkierungen; Zitieren allgemeiner oder spezieller Aspekte des Prätextes; Übereinstimmung oder Kontrast zum Prätext; siehe die Überschriften im Inhaltsverzeichnis, Abschnitte 2.1.1 bis 3.2.3). Für alle Zitiertypen wird jeweils ein Brief exemplarisch vorgestellt. Die übrigen Briefe, die Behrendt nicht ausführlich interpretiert, stellt sie ganz knapp stichwortartig in einer Tabelle im Anhang dar. Die ausgewählten Briefe werden jeweils anhand der in Kapitel II begründeten Terminologie analysiert. Die Gesamtanalyse der Briefe, die den Hauptteil der Arbeit darstellt, aber deren Methode Behrendt nicht eigens begründet, lässt sich so beschreiben: Die Einzelanalysen, die als fortlaufende Interpretationen präsentiert werden, enthalten i.d.R. eine kurze historische Einordnung der involvierten Personen und Ereignisse und eine Gliederung (teils tabellarisch, teils ausformuliert); Behrendt vollzieht die Argumentation schrittweise nach und kommentiert die sprachlich-rhetorische Gestaltung der für das Zitat wichtigen Passagen. Da zum gewählten methodischen Ansatz die Phase der "Digression" gehört, d.h. das Nachdenken des Adressaten über den ursprünglichen Zusammenhang des Zitats, wird entsprechend auch dieser jeweils ausführlich dargestellt. Weil die analysierten Briefe durch ein formales Kriterium und nicht inhaltlich verbunden sind, muss jede Interpretation eines Einzelbriefs neu in seine konkrete Situation eingebettet werden, was angesichts der bekanntlich unzähligen Anspielungen auf Personen und Situationen keine geringe Herausforderung ist. 5 Daher ist es verständlich, dass die Informationen zuweilen etwas unausgewogen sind oder an unerwarteten Stellen gegeben werden (z.B. zu Varro erst zu einem Brief an Varro, S.149 f., anstatt zum kritischen Brief über Varro, S.70; zum Verhältnis zwischen Cicero und Atticus erst S.77) oder Details angeführt werden, die für die Fragestellung irrelevant sind (z.B. Fragen zur Datierung des Prätextes, S.151). Bei der Interpretation einzelner Passagen greift Behrendt teilweise recht weit aus, wobei zuweilen mehr historische Verortung nützlich wäre, bevor literarische Vergleiche ausgemalt werden (z.B. zu fam. 12,25 wäre vor einem Vergleich mit Odysseus' Irrfahrten wichtig zu wissen, von welcher konkreten Reise Cicero überhaupt spricht). Die Einzelinterpretationen illustrieren die verschiedenen Zitattypen und Funktionen von Zitaten. Insgesamt macht Behrendt deutlich, dass Cicero die verschiedensten Möglichkeiten zum Einsatz von Zitaten ausnutzt. Im Einzelnen präsentiert sie z.B. folgende konkrete Ergebnisse: Das bloße "Anzitieren" (z.B. in Att. 2,25,1) setzt einen kompetenten Adressaten voraus, der das Zitat vervollständigen kann und auf diese Weise gleichsam selbst die in den "eigenen Worten" des Verfassers unausgesprochene Kritik formuliert. Doch auch Zitate ganzer Verse setzt Cicero so ein, dass er unbequeme Meinungen äußern und so – für den mit dem Prätext vertrauten Adressaten – am Ende des Briefs eine vorige Aussage in Frage stellen und zur wiederholten Lektüre auffordern kann (z.B. in fam. 12,25). Ein Zitat ermöglicht es Cicero, sich sehr kurz zu fassen, da die gesamte Redesituation des Prätextes mit in den neuen Kontext transferiert werden kann (Att. 12,6a). Auf der anderen Seite sieht Behrendt auch einige Hinweise darauf, dass Cicero nicht in jedem Fall die Zitate planvoll einsetzte (z.B. in Att. 2,16, Att. 13,12). – Man könnte also die Ergebnisse von Behrendt so zusammenfassen und etwas weiterführen: Es scheint auf der einen Seite solche Zitate zu geben, bei denen die Phase der Digression beim Adressaten offenbar das Verständnis des Briefes fördert bzw. für dieses nötig ist. Und zum anderen finden sich solche Zitate, in denen Cicero die Hinwendung zum ursprünglichen Kontext des Zitats, jedenfalls soweit für uns noch ersichtlich, nicht beabsichtigt hat. Damit könnte Behrendt am Ende ihrer Untersuchung eigentlich die Voraussetzung, dass die Phase der Digression grundsätzlich anzusetzen bzw. zu erwarten sei, in Frage stellen. Insofern ist es etwas schade, dass die Interpretation von fam. 9,7 dann doch keine Gesamtinterpretation ist, sondern nach § 2 einfach abbricht. Zwar gehören die im Rest des Briefes folgenden Zitate (ein Zitat aus Ennius' Annalen und ein Zitat eines unbekannten Autors) nicht zum klar definierten untersuchten Spektrum, doch wäre dies eine interessante Möglichkeit gewesen, um zu zeigen, inwiefern die Tatsache, dass hier die Prätexte nicht mehr zur Verfügung stehen, tatsächlich unsere Rezeption verändert. In Kapitel IV fasst Behrendt die Ergebnisse der Einzelanalysen zusammen. Als umfangreichen Anhang bietet sie Notizen zu den weiteren Briefen, in denen Cicero Zitate einsetzt, die nicht ausführlich interpretiert werden. Sie gibt jeweils eine Kurzinterpretation des Zitats und zeigt die Markierung von Desintegration, Digression und Reintegration der Zitate (siehe oben zu Kap. I) auf. Der Anhang ist sicher als Beleg für die Ergebnisse und als Grundlage weiterer Studien nicht unnütz, allerdings ist die gewählte Form der quer präsentierten Tabelle weder papier- noch lesetechnisch günstig, da so insgesamt doch etliche Seiten leer bleiben. Das Literaturverzeichnis, ein kurzes englisches Abstract und ein Stellenindex schließen den Band ab. Nur wenige Fehler sind zu korrigieren, z.B. die zweite Stellenangabe in Anm. 375 (S.125) zu richtig 12,17,2 und die Übersetzung von transferamus (S.158). Leider spart der Verlag am Klebstoff, so dass die Seiten auch bei vorsichtiger, aber vollständiger Lektüre extrem schnell auseinanderfallen. Die neueren Monographien zu Ciceros Briefen haben unter anderem gezeigt, welche sozialen Strategien sich in der Korrespondenz regelmäßig beobachten lassen (Hall) und wie sich Cicero als Literat präsentiert (White6). Behrendt kann mit ihrer systematischen Untersuchung der Dichterzitate diese Ergebnisse der Forschung nun voll bestätigen und mit ihren Interpretationen illustrieren: So zeigen etliche ihrer Beispiele, dass der Einsatz von Zitaten dem sozialen Miteinander dient, indem Unangenehmes in "fremder Rede" vorgebracht oder auch nur angedeutet wird. Die für die Analyse ausgewählten Briefe sind jeder für sich einer Interpretation durchaus wert und die Interpretationen sind auch für Leser ohne spezielles Interesse an den Zitaten mit Gewinn zu lesen. Indem die Analyse der Einzelbriefe sowohl die Unterschiede der "Zitiertypen" als auch der Funktionen der Zitate im konkreten Kontext aufzeigen, wird die Ausgangsfrage, ob Cicero beim Zitieren eine bestimmte Methode anwendet, verneint. Man kann dieses Ergebnis durchaus positiv formulieren, und zwar viel positiver, als es die Autorin selbst darstellt: Auch die gründliche Analyse des Verfahrens "Zitat" zeigt einmal wieder, dass jeder Brief Ciceros eine genaue Lektüre lohnt und ein eigenes Ergebnis bringt. So gibt die Lektüre der Analysen nicht nur einen Eindruck von der Vielfalt der Zitiertypen und -funktionen, sondern insgesamt von der stilistischen und inhaltlichen Vielfalt der Briefe.
Notes:
1. Vgl. das Inhaltsverzeichnis zu den Abschnitten 2.1.1 bis 3.2.3 und eine weitere Analyse unter 1.1.
2. J. Helbig, Intertextualität und Markierung, Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg 1996.
3. P. Stocker, Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien, Paderborn 1998.
4. J. Hall, Politeness and Politics in Cicero's Letters, Oxford 2009.
5. Z.B. wäre zu Varro als Adressat bzw. Thema zu ergänzen: Christiane Rösch-Binde, Vom "deinos aner" zum "diligentissimus investigator antiquitatis". Zur komplexen Beziehung zwischen M. Tullius Cicero und M. Terentius Varro, München 1998.
6. P. White, Cicero in Letters, Epistolary Relations of the Late Republic, Oxford, New York 2010.
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