Reviewed by Ute Tischer, Universität Potsdam (ute.tischer@uni-potsdam.de)
Der hier zu rezensierende, von Fabio Stok herausgegebene Band versammelt auf rund 450 Seiten insgesamt zwanzig Beiträge, die auf eine römische Tagung zur antiken Vergilexegese vom September 2013 zurückgehen.1 Da es an dieser Stelle nicht möglich ist, alle diese Arbeiten im Mit dem Titel Totus scientia plenus. Percorsi dell’esegesi virgiliana antica spielt der Herausgeber auf den Beginn des Serviuskommentars zum sechsten Buch der Aeneis an (Serv. Aen. 6 praef., p. 1,1 Thilo). Dieser Bezug ist in vielerlei Hinsicht passend gewählt. Ebenso Der vorliegende Band behandelt, anders als es der Titel nahe legt, ebenfalls fast ausschließlich diese beiden Autoren. Dreizehn der enthaltenen Beiträge sind Servius und fünf Tiberius Claudius Donatus gewidmet. Besonders zum Serviuskommentar zeigt sich dabei manche Parallele. Schon bei Thematisch konturieren sich mehrere Gruppen mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse. So beschäftigen sich vier Aufsätze mit stemmatologischen Fragen und der Textkonstitution (Servius: Ramires, Poletti; Donatus: Lucarini, Pirovano), einer auch mit den Bezügen zu einem anderen Unter denjenigen Untersuchungen, die sich auf die inhaltliche Analyse der Kommentare richten, interessieren sich einige vor allem für die Herkunft bestimmter Scholien (Abbamonte, Scafoglio, Guillaumin), der Beitrag von Gioseffi auch für die geistesgeschichtlichen Ursprünge der rhetorischen Der größere Teil dieser Arbeiten jedoch untersucht die verschiedenen Aspekte der Tätigkeit der Kommentatoren, und hier sind auch die meisten inhaltlichen und methodischen Überschneidungen zu beobachten. Mehrere Autoren beleuchten ausgehend von terminologischen Untersuchungen die Prinzipien Aus recht unterschiedlichen Perspektiven kommen die Autoren dabei zu einer Reihe ähnlicher Schlussfolgerungen. So beschreiben Vallat (78), Lazzarini (101) und Daghini (415) übereinstimmend, wie der kommentierende grammaticus durch seine besondere Beziehung zum kommentierten Text selbst Trotz dieser inhaltlichen Berührungspunkte ist der Fokus der Untersuchungen und damit ihre allgemeinere Aussagekraft sehr unterschiedlich. So stehen einige Querschnittsstudien auf breiter Materialbasis (z.B. Vallat, Bouquet, Draghini) anderen gegenüber, die – oft sehr überzeugend – Den etwas irritierenden Abschluss des Bandes schließlich bilden zwei Essays (Tabacco, Esposito), die als Appendice deklariert sind. Sie beziehen sich auf den kürzlich publizierten Briefwechsel zwischen Guiseppe Ramires und dem im Jahr 2000 verstorbenen Sebastiano Timpanaro,3 Hervorzuheben ist jedoch, dass wenigstens hier im Anhang die Tätigkeiten auf dem Gebiet der digitalen Editionen lateinischer Texte zur Sprache kommen, in deren Umfeld sich nach der Angabe des Herausgebers auch Tagung und Sammelband einordnen. 4 Raffaella Tabacco, die in ihrem Insgesamt bietet der Sammelband einen instruktiven Überblick vor allem über die lebendige italienische Forschung zur antiken Vergilkommentierung. Dass nur wenige ausländische Beiträger und insbesondere keine Vertreter aus den USA am Buch beteiligt sind, die auf editorischem und textkritischem
Einzelnen zu besprechen, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, in Form einer Synthese einen Gesamteindruck der Lektüre zu vermitteln.
nämlich, wie Servius den Dichter Vergil und seinen Text als Quelle mannigfaltigster Kenntnisse deklariert, entdeckt auch die jüngste Forschung zu den antiken Vergilexegeten immer neue Aspekte in den Kommentaren, die auf den selbstbewussten, reflektierten und von didaktisch-ideologischen
Intentionen motivierten Umgang der Kommentatoren mit dem kanonischen Epos verweisen. Und wie Serviusʼ Vorgänger den Themen Vergils integras pragmatias gewidmet haben sollen (Serv. Aen. 6 praef., p. 1,5 Thilo), so ist auch in den letzten Jahren eine beachtliche Anzahl von
Monographien und Sammelbänden gerade zu Servius, aber auch zu seinem Zeitgenossen Tiberius Claudius Donatus (nicht zu verwechseln mit dem älteren und berühmteren Aelius Donatus) entstanden.2
Servius ist zu beobachten, wie der kommentierte Gegenstand Inhalt und Form der Exegese determiniert: Der allgelehrte Dichter bedarf eines ebensolchen Exegeten, und im Kommentar entfaltet sich ein Kosmos des zeitgenössischen Wissens in verstreuter Form. Weit gestreut sind auch die Themen der in
den Sammelband aufgenommenen Beiträge, und wie Servius weist der Band insgesamt Züge eines variorum-Kommentars auf: Nach der Angabe des Herausgebers (Introduzione, 7) besteht der gemeinsame Nenner der enthaltenen Arbeiten darin, Forschungstendenzen der letzten fünfzehn Jahre auf
dem Gebiet der antiken Vergilexegese widerzuspiegeln. Entsprechend verschieden sind die Beiträge in Thematik, Perspektive, Ansatz, Breite und Niveau, aber auch in formaler Sorgfalt und Ausarbeitung.
zeitgenössischen Kommentar (Santini zu Servius und Lactantius Placidus). Besonders die beiden Arbeiten zu den Zeugen der Interpretationes Vergilianae des Donatus (Lucarini, Pirovano) berühren im Zuge der Textgeschichte dabei auch die Rezeption dieses Autors in Mittelalter und Humanismus.
Der Behandlung des Serviuskommentars durch den Humanisten Landino ist der Beitrag von Bouquet gewidmet.
Kommentartechnik vom Typ der Interpretationes Vergilianae.
und Interpretationsprämissen der beiden Exegeten (Vallat über per transitum/latenter zum Konzept der Implizitheit; Delvigo über veteres/antiqui zur Frage des archaischen Sprachgebrauchs; Gioseffi zum exegetischen Vokabular bei Donatus; Daghini zum Konzept der brevitas
ebenfalls bei Donatus). Drei Arbeiten gelten der Behandlung der Thebais des Statius, eines Autors, der mit Servius erstmals als auctoritas in der Vergilexegese erscheint (Lazzarini, Monno, Santini). Besonders eng berühren sich dabei die Beiträge von Monno und Lazzarini, die beide
einige ausgewählte Verweise des Kommentators auf Statius analysieren und zeigen, wie Servius für seinen Leser auf mehr oder weniger implizite Art auch die intertextuellen Bezüge zwischen Vergil und Statius erschließt. Einen originellen Ansatz verfolgt Pégolo, die Serviusʼ Notizen zum non
enarrabile textum der vergilischen Schildbeschreibung unter Rückgriff auf narratologische Kategorien analysiert.
zu einer auctoritas wird oder ihm, im Falle des Donatus, in seinem eigenen Werk gleichzukommen sucht. Interessant ist in diesem Zusammenhang ebenso die sowohl von Vallat (57-8) als auch von Gioseffi (378) gemachte Beobachtung, dass die von den Kommentatoren verwendeten Formulierungen, etwa
per transitum tangit oder (poeta) docet, häufig den Dichter oder seine Figuren zum logischen Subjekt ihrer Erklärungen machen und damit die interpretierende Tätigkeit des Kommentators ausblenden. Ein weiteres, in zwei Beiträgen berührtes Thema ist die von den Kommentatoren
als Intention Vergils angenommene Augustuspanegyrik und ihre Auswirkungen auf die Kommentierung. Fabio Stok zeigt diese Auswirkungen für Servius überzeugend in der Verwendung widersprüchlicher Seelenwanderungskonzeptionen (182), während Marisa Squillante (397-400) die verschiedenen Vehikel des
Augustuslobs untersucht, die Donatus notiert. Squillante (394) beschreibt die von Donatus beobachtete Lobtechnik Vergils als eine in erster Linie implizite Strategie. Dies wiederum deckt sich mit der Vorliebe, die sich bei Servius für allusive Deutungen beobachten lässt, ein Ergebnis, zu welchem
Daniel Vallat (53-5) in seiner anregenden Studie gelangt.
exemplarisch vorgehen (z.B. Monno, Gioseffi, Pégolo) oder aber sich der Klärung einer Einzelfrage im Detail widmen (z.B. Guillaumin, Stok, Pirovano). Zuweilen scheinen die Beiträge eher Materialsammlung als Analyse zu intendieren (Delvigo), etliche breiten die Evidenz für ihre Thesen in längeren,
teils äußerst unübersichtlichen Listen aus (Lucarini, Ramires, Gioseffi), und gelegentlich ist der Vortragscharakter noch offensichtlich (Squillante, Lazzarini, Delvigo).
haben mit der esegesi virgiliana antica also nur mittelbar zu tun. Angesichts ihrer eher assoziativen Beziehung zu den übrigen Beiträgen und ihres pietätvollen Tonfalls gegenüber dem großen Florentiner Gelehrten Timpanaro erinnert auch hier manches an den Serviuskommentar.
Aufsatz u.a. einige der von Timpanaro diskutierten Serviuslesarten einer digital gestützten Prüfung unterzieht, ist, wie viele andere der Beiträger, an diesen beeindruckenden Aktivitäten der italienischen Forschung beteiligt. Den konzertierten Anstrengungen, wie sie etwa die Projekte digilibLT,5 Musisque Deoque6 oder das in Arbeit befindliche Unternehmen BibCLat7 illustrieren, ist es zu verdanken, dass bereits jetzt eine große Anzahl sonst schwer
zugänglicher spätantiker Texte in durchsuchbarer Form digital zur Verfügung steht.
Gebiet häufig abweichende Meinungen vertreten haben,8 mag der eher nationalen Ausrichtung der Tagung geschuldet sein. Davon abgesehen findet der an Servius und Tiberius Claudius Donatus interessierte Leser detaillierte Beobachtungen zu den verschiedensten Spezialproblemen, aber auch
viel Grundlegendes über die Tätigkeit und den geistigen Horizont der Kommentatoren.9
Notes:
1. Università di Roma Tor Vergata, 19.–21. September 2013.
2. Vgl. z.B. Monno, O.: La Tebaide nella bibliotheca di un grammatico. Citazioni di Stazio nel commento di Servio a Virgilio. Bari 2013; Pellizzari, A.: Servio. Storia, cultura e istituzioni nell'opera di un grammatico tardoantico. Firenze 2003; Pirovano, L.: Le
‘Interpretationes Vergilianae’ di Tiberio Claudio Donato. Problemi di retorica. Roma 2006; Scaffai, M.: La presenza di Omero nei commenti antichi a Virgilio. Bologna 2006; Bouquet, M.; Méniel, B. (Hg.): Servius et sa réception de l'Antiquité à la Renaissance. Rennes 2011, sowie
die jüngste französische Edition von E. Jeunet-Mancy: Servius. Commentaire sur l’Enéide de Virgile. Livre VI. Paris 2012.
3. Timpanaro, S., Ramires, G.: Carteggio su Servio (1993-2000). Pisa 2013, rez. von J.E.G. Zetzel in BMCR 2014.04.41.
4. Vgl. Stok, Introduzione 7, Anm. 1: Die Tagung stand im Zusammenhang mit dem Projekt BibCLat (Biblioteca digitale dei commentari latini).
5. Spätantike lateinische Autoren, gegenwärtig noch beschränkt auf pagane Prosa (Raffaella Tabacco, Maurizio Lana u.a.).
6. Dichtertexte von der Antike bis zur Renaissance (Paolo Mastandrea u.a.).
7. Geplant ist eine umfassende Metadatenbank, in deren erster Phase Kommentare zur Dichtung integriert werden (Koordination Marisa Squillante); vgl. die Projektbeschreibung von Lucio Cristante.
8. Vgl. die von Zetzel in BMCR 2014.04.41 angedeutete Kontroverse mit Timpanaro und Ramires.
9. Bedauerlich und vielleicht eine Folge der schnellen Publikation ist das nachlässige Lektorat des Bandes, dem viel zu viele Druckfehler und Uneinheitlichkeiten vorzuwerfen sind. Redundanzen hätten sich durch eine Gesamtbibliographie vermeiden lassen, und auch ein Index wäre in einem
Band, in dem nur zwei Autoren häufig exemplarisch, aber detailliert besprochen werden, ein Entgegenkommen für den Leser gewesen.
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