Reviewed by Constanze Graml, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (graml@uni-mainz.de)
Im Jahr 2004 initiierte Peter Siewert das Projekt einer kritischen Quellensammlung aller antiken Textzeugnisse zum nordwestlichen Stadtgebiet Athens, dem so genannten Kerameikos. Dem breiten Verwendungsspektrum des Namens „Kerameikos", bedingt durch die diachron variierenden Bezugsräume des Begriffs, wurde dabei in vollem Umfang Rechnung getragen. So wurden neben dem als Straße verstandenen Kerameikos der archaischen bis hellenistischen Zeit auch die Zeugnisse zu dem in römischer Zeit als Kerameikos bezeichneten Areal einbezogen, welche das an die Straße angrenzende Gebiet einschließen. Die Quellenfülle sowie der Umstand, dass der Kerameikos bereits in der Antike als zweigeteilt beschrieben wurde, führten zur Aufteilung der Projekt-Publikation auf zwei Bände. Der erste, bereits 2007 vorgelegte Band behandelt die Schriftzeugnisse des Inneren Kerameikos.1 Mit dem Erscheinen des zweiten Bandes zum Dipylongebiet und dem Äußeren Kerameikos hat das seit 2008 von Claudia Ruggeri unter der Mitarbeit von Ilja Steffelbauer fortgeführte Projekt der Testimonien-Sammlung nun seinen Abschluss gefunden. Die folgende Besprechung gilt in erster Linie dem neu erschienenen zweiten Band, wobei bedingt durch Mehrfach-Bezüge einer Quelle, sowohl auf den Inneren als auch auf den Äußeren Kerameikos, vereinzelt auch auf Band I Bezug genommen wird. Inhalt: Während sich der erste Band mit dem von der klassischen Agora bis zum Dipylontor reichenden innerstädtischen Gebiet befasst und dabei besonders die Verquickung des Begriffs „Kerameikos" mit dem Demos „Kerameis" wie auch der Agora analysiert und differenziert darlegt, widmet sich der zweite Band dem geographischen Raum vom Dipylontor bis hin zur stadtauswärts gelegenen Akademie Platons. Aufgrund der antiken Verwendung des Terminus „Kerameikos" werden auch die entlang der Verkehrsachse und die im näheren Umfeld liegenden Bauten einbezogen. Dabei werden, analog zu Band I, topographische und tätigkeitsbezogene Themenkomplexe gebildet, denen die einzelnen Schriftzeugnisse zugeordnet werden. Band II beginnt mit der Definition des zu behandelnden Gebietes und der Diskussion der in einzelnen Quellen überlieferten Verquickung des Toponyms „Kerameikos" mit dem Dipylongebiet und der Akademie (Kap. A). Im Anschluss daran wird anhand von zwei literarischen Beschreibungen ein Überblick über das Gelände mit dort verorteten Einrichtungen, einmal zur Zeit Ciceros und einmal zur Zeit Pausanias´, präsentiert(Kap. B: „Zusammenfassende Zeugnisse"). Darauf folgen die topographischen Themenkomplexe „Heiligtümer" (Kap. C), „Öffentliche Bauten" (Kap. D), „Bildwerke" (Kap. E), „Horoi" (Kap. F), „Gewerbe, Markt und Geschäfte" (Kap. G), „Werkstätten" (Kap. H), „Häuser/Wohnungen und Grundstücke" (Kap. J), „Verkehrswege" (Kap. K) sowie „Friedhof und Gräber" (Kap. L). Der letztgenannte Punkt stellt dank der günstigen, aber auch Anlass zu zahlreichen Kontroversen bietenden Quellenlage das größte Kapitel dar. Grund für den Umfang dieses Teils ist die Besprechung des ebenfalls mit dem Begriff „Kerameikos" versehenen Staatsfriedhofs der Kriegsgefallenen. Dieser stellte für die Polis Athen einen der wichtigsten Erinnerungsorte dar und wurde in zahlreichen historischen und literarischen Quellen thematisiert. An viele der genannten Orte sind Tätigkeiten gebunden, die eines größeren Aktionsradius bedürfen und daher über deren geographische Grenzen hinausreichen. Dies gilt für Handlungen in den Bereichen „Kultische Vorgänge" (Kap. M), „Ausbildung und Unterricht" (Kap. P), „Freizeit" (Kap. Q), „Prostitution" (Kap. R). Auch historische „Einzelereignisse" (Kap. S), wie die Staatsempfänge Attalos´ I. oder des Pompeius werden besprochen. Im Anschluss daran folgen die „Testimonien zum Begriff ‚Kerameis' und Überlegungen zum Ursprung des Namens" (Kap. T), die auf die Töpferproduktion und den eponymen Heros Keramos eingehen. Die abschließende Zusammenfassung betont das durch die Koexistenz der verschiedenen Nutzungen facettenreiche Bild des Areals. Die Frage nach einer möglicherweise staatlich geplanten Geländekonzeption und damit verbundenen Eigentumsverhältnissen, beispielsweise staatlich verwaltete Kriegergräber unmittelbar neben Werkstätten oder anderen Betrieben in Privatbesitz, kann mangels adäquater Quellen nicht geklärt werden. In zwei Appendices finden zum einen die „Heilige Straße und Örtlichkeiten an derselben" (Kap. Y, Appendix 1), zum anderen „Zeugnisse mit unklarem Bezug auf den inneren Kerameikos oder die Agora" (Kap. Z, Appendix 2) Erwähnung. Am Ende des Bandes stehen der Allgemeine Index, der etwas ausführlicher und weitrechender angelegt sein könnte, sowie ein Index der Textstellen und ein Index der Inschriften aufgeführt. Weiterhin wurden zwei Pläne beigefügt, die auf dem fundierten Kartenmaterial von John Travlos2und Ursula Knigge3 basieren. Es handelt sich zum einen um einen Gesamtplan des Gebiets von der Stadtmauer bis hin zur Akademie Platons; gezeigt wird die moderne Bebauung mit den angenommenen und teilweise auch gesichert lokalisierten antiken Stätten. Zum anderen gibt ein Plan den Zustand des Kerameikos-Grabungsgeländes wieder. Präsentationsform: Alle im Buch präsentierten schriftlichen Zeugnisse werden sowohl in Originalsprache als auch in deutscher Übersetzung vorgelegt. Lobend hervorzuheben ist, dass sie datiert werden und, wenn bekannt, auch ihr historischer Bezugspunkt angegeben wird. Bei epigraphischen Quellen werden zudem der Auffindungsort und der mutmaßliche ursprüngliche Standort des Inschriftenträgers angeführt, um die gerade bei Inschriften häufig vorkommende Verschleppung und Wiederverwendung offensichtlich zu machen. Des Weiteren werden die zugehörigen epigraphischen Quelleneditionen angeführt. Die Angabe der verwendeten Editionen von literarischen und historischen Quellen fehlt in Band II. Wünschenswert wäre bei den epigraphischen Zeugnissen zudem die Erwähnung des aktuellen Aufbewahrungsortes und der Inventarnummer gewesen. Besonderes Augenmerk legen die Bearbeiter auf die schriftlich überlieferten Orte, welche mit dem archäologischen Befund übereingebracht werden können. Unklarheiten oder Widersprüche bei der Identifikation dieser Örtlichkeiten werden dabei anhand der bis 2011 erschienenen Forschungsliteratur, die abgesehen von wenigen Titeln recht vollständig scheint,4 kritisch diskutiert. Einzelne Kritikpunkte: In der Intention, Ergebnisse einer kritischen Quellenanalyse mit archäologischen Befunden zu verbinden, liegen auch die wenigen Kritikpunkte an diesem Werk begründet. Die frühen Grabungen im Kerameikos, im Exo Kerameikos und entlang der modernen Piräus-Straße am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in zahlreichen kurzen Grabungsberichten vorgelegt. Gerade damals wurden durch das großflächige Freilegen zahlreiche Entdeckungen gemacht, die aufgrund ungenügender Grabungsdokumentation unpräzise publiziert wurden. Für eine Verzahnung dieser Ergebnisse mit den Schriftzeugnissen ist daher eine genaue Kenntnis dieser frühen Grabungstätigkeiten unabdingbar. Die angedeutete Problematik wird am Beispiel des temenos der Artemis Soteira (Kap. C III) deutlich. Eine genauere Analyse der Beschaffenheit der dort gefundenen Inschriftenträger macht eine Verbindung von Artemis Ariste und Kalliste mit Artemis Soteira unmöglich. Der unterschiedliche Erhaltungszustand der einzelnen Textträger zeigt an, dass allein die vollständig erhaltenen Inschriften für Artemis Soteira unweit des Auffindungsortes innerhalb des sogenannten temenos der Hekate aufgestellt waren und keine Zerstörung und anschließende Verlagerung erfahren haben. Das einzige dort gefundene Inschriftenfragment mit Bezug zu Ariste und Kalliste wurde hingegen verschleppt, weitere Zeugnisse für diese Gottheiten kamen in mehreren hundert Metern Entfernung zutage. Zudem fällt die Nichtberücksichtigung mehrerer Inschriften, die im Grabungsgelände des Deutschen Archäologischen Instituts gefunden wurden und Informationen zum Kerameikos liefern, auf. Man vermisst die von Christian Habicht5 vorgelegte Ephebenweihung an den Heros Mounichos für einen Sieg im Fackellauf. Sie hätte bei den Beiträgen zu den Fackelläufen (Kap. M I), dem Pompeion (Kap. D VI)oder aber in Band I beim Gymnasium des Hermes (Kap. D III) eingereiht werden können. Genauso hätte die von Habicht an gleicher Stelle publizierte Ehreninschrift für einen Hipparchen aufgenommen werden können. Deren Fehlen zeigt, dass ein Eintrag zu Reiterei vollkommen ausgelassen wurde. Bereits in Band I wäre eine Besprechung des Amtslokals der Hipparchen auf der Agora „bei den Hermen"6 passend gewesen. Nicht berücksichtigte epigraphische Zeugnisse aus den amerikanischen und aus den deutschen Grabungen7 sind mit der möglicherweise auf der Kerameikos-Straße vorgenommenen Musterung (dokimasia) der athenischen Reiterei zu verbinden. Bewertung: Mit den beiden Bänden ist es den Bearbeitern gelungen, die vielfältigen Informationen zur prominenten nordwestlichen Vorstadt Athens klar und strukturiert zu bündeln und dem Leser dadurch die bemerkenswerte Informationsdichte zu diesem Gebiet vor Augen zu führen. Auch die Komplexität eines vielseitig genutzten Areals wird anhand der klaren Gliederung der Bände gut nachvollziehbar. Die Definition einzelner Orte und teilweise auch deren Identifikation anhand von archäologischen Zeugnissen erfolgt separat von der Besprechung der praktizierten Tätigkeiten und stattgefundenen historischen Ereignisse. Für Studien zum Gebiet des Kerameikos stellen beide Bände, abgesehen von den oben angeführten Kritikpunkten im archäologischen Bereich, eine sehr gute Grundlage dar. Die klare Vorgehens- und Präsentationsweise der antiken Schriftzeugnisse erweist sich als vorbildhaft für Studien zu anderen Bereichen der Stadt.
Notes:
1. C. Ruggeri – P. Siewert – I. Steffelbauer, Die antiken Schriftzeugnisse über den Kerameikos von Athen I. Der innere Kerameikos, Tyche Sonderband 5/1 (Wien 2007).
2. J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen (Tübingen 1971).
3. U. Knigge, Der Kerameikos von Athen. Führung durch Ausgrabungen und Geschichte (Athen 1988).
4. Nach Auffassung der Rezensentin hätten u. a. auch folgende Titel in einem der beiden Bände genannt werden können: G. v. Alten, "Die Thoranlagen bei der Hagia Triada zu Athen", AM 3, 1878, 28 48. H. Lind, "Ein Hetärenhaus am Heiligen Tor? Der Athener Bau Z und die bei Isaios (6, 20 f.) erwähnte Synoikia Euktemons", Museum Helveticum 45, 1988, 158-169. C. Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland (München 1989). H. Lind, Töpfer, Gräber und Hetären. "Der Kerameikos von Athen in neuem Licht", Nürnberger Blätter zur Archäologie 1993, 106-113. A. J. Ammermann, "The Eridanos Valley and the Athenian Agora", AJA 1996, 699-715. J. K. Papadopoulos, "The Original Kerameikos of Athens and the Siting of the Classical Agora", Greek, Roman and Byzantine Studies 37, 1996, 107 128. M. C. Monaco, Ergasteria. "Impianti artigianali ceramici ad Atene ed" in Attica dal protogeometrico alle soglie dell ´ellenismo, Studia archaeologica 110 (Rom 2000).
5. C. Habicht, "Neue Inschriften aus dem Kerameikos", AM 1961, 127-148.
6. Mnesimachos frag.4 PCG: "βαῖν' ἐκ θαλάμων κυπαρισσορόφων ἔξω, Μάνη· στεῖχ' εἰς ἀγορὰν πρὸς τοὺς Ἑρμᾶς, οὗ προσφοιτῶσ' οἱ φύλαρχοι, τούς τε μαθητὰς τοὺς ὡραίους, οὓς ἀναβαίνειν ἐπὶ τοὺς ἵππους μελετᾷ Φείδων καὶ καταβαίνειν."
7. K. Braun, "Der Dipylon-Brunnen B1. Die Funde", AM 1970, 129-269. J. H. Kroll, "An Archive of the Athenian Cavalry", Hesperia 46,2, 1977, 83-140. G. R. Bugh, "Cavalry Inscriptions from the Athenian Agora", Hesperia 67,1, 1998, 81-90.
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