Reviewed by Carlo Scardino, Universität Freiburg i.Br. (carlo.scardino@ucf.uni-freiburg.de)
Die mittelalterliche arabische Mathematik ist ein Musterbeispiel für die Rezeption und die eigenständige Weiterentwicklung der antiken Naturwissenschaften im Islam. Parallel zu den arabischen Übersetzungen der griechischen Standardwerke dieser Wissenschaft, zu denen die mindestens zweimal übersetzten Elementa Euklids, aber auch Archimedes' De sphaera et cylindro oder Diophants Arithmetica gehören, entstand im 9. Jh. eine neue Mathematik: Besonders hervorzuheben ist dabei der Mathematiker al-Ḫwārizmī (780- 850), der die Algebra (aus arabisch al-ǧabr „das Einrenken") als neue Disziplin der Berechnung eingeführt hat und aus dessen Namen später das Wort Algorithmus gebildet wurde. Der Ägypter Abū Kāmil (wohl 830-900), der sich als Nachfolger al-Ḫwārizmīs verstand, hat in seinen Werken die Arbeit seines Vorgängers weitergeführt und unter Zuhilfenahme von Euklids Elementa weiterentwickelt. Seine Arbeiten wurden ins Hebräische und ins Lateinische1 übersetzt und beeinflußten europäische Mathematiker wie Fibonacci. Abū Kāmils Hauptwerk, das Kitāb al-ǧabr wal-muqābala, ist bisher noch nicht auf arabisch herausgegeben worden. Mit seiner editio princeps hat Roshdi Rashed nun dieses wichtige Desiderat auf mustergültige Weise erfüllt. Wegen der Komplexität der Materie ist es, wie Rashed im Vorwort S. IX mit Recht schreibt, bei einem solchen Text nötig, die philologische Arbeit durch eine „compréhension en profondeur des mathématiques du texte et de leur histoire" zu ergänzen. Rashed, der auch Mathematiker ist, hat mit Hilfe der modernen mathematischen Terminologie alle von Abū Kāmil angeführten Beispiele erläutert und das Werk im zeitgenössischen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verortet. Aus diesem Grund hat Rashed seiner Edition eine umfangreiche Einleitung (Introduction) und eine einführende Studie (S. 35-219) vorangestellt. In der Einleitung (S. 1-31) werden Leben und Werk Abū Kāmils, über den erstaunlicherweise wenig bekannt ist, rekonstruiert. Gegen die bisherige communis opinio, die Abū Kāmils Lebenszeit 850-930 ansetzt, meint Rashed, daß der Autor, der wohl seit 878 im Dienst des ägyptischen Herrschers Aḥmad ibn Ṭūlūn (reg. 868-883) stand, wohl etwas früher, von 830-900, lebte (S. 5): Da Abū Kāmil in seinem Werk weder Ibn Ṭūlūn nennt noch im Gegensatz zu Euklids Elementa die um 860 von Qusṭa ibn Lūqā übersetzten Arithmetica des Diophantos, die für sein Werk ebenfalls von Nutzen gewesen wären, zitiert, setzt Rashed als Terminus ante quem für Abū Kāmils Hauptwerk das Jahr 870 an (S. 5). Die klaren Beziehungen Abū Kāmils zu Diophants Werk sind für Rashed erstaunlich (S. 6: „S'agit-il des échos de la traduction, en cours à Bagdad, des Arithmétiques de Diophante?"). Wahrscheinlich war aber Diophantos' Arithmetik, die zum spätantiken Hochschulprogramm gehörte, schon vor der Übersetzung seines Werks ins Arabische auf indirektem Wege zugänglich.2 Im folgenden stellt Rashed die beiden auf Arabisch erhaltenen Schriften von Abū Kāmils Werk, das nach den arabischen Testimonien über zehn Titel umfaßte, vor: Aus den verschiedenen Nachrichten und Zitaten (z.B. der nach Abū Kāmil lebenden Mathematiker al-Karaǧī und al-Samaw'al) und besonders aus dem Vergleich mit der hebräischen und der unvollständigen lateinischen Übersetzung läßt sich endgültig beweisen, daß das nur in einer im 13. Jh. in Kairo hergestellten und heute in Istanbul aufbewahrten Handschrift (MS 379 [19046] der Kara Muṣṭafā Paşa Sammlung in der Beyazit-Bibliothek) erhaltene Kitāb al-ǧabr wal-muqābala tatsächlich von Abū Kāmil stammt. Neben der lateinischen und der hebräischen Übersetzung bezeugt besonders Fibonaccis Liber Abaci, in dem dieselben Probleme wie bei Abū Kāmil behandelt werden, dessen Einfluß. In einem weiteren Schritt zeigt Rashed einleuchtend auf, daß die unter dem Titel Ṭarā'if al-ḥisāb in zwei Manuskripten aus Leiden (Leiden or. 199, fol. 50v-58v) und Paris (BNF, fonds arabe 4946, fol. 3v-16r, das wohl eine Kopie der Leidener Handschrift ist) überlieferte Schrift in Wirklichkeit das in den Testimonien als Kitāb aṭ-Ṭayr überlieferte Werk Abū Kāmils ist. Im ersten Hauptteil (S. 35-239) ist es das große Verdienst Rasheds, unter Verwendung der modernen mathematischen Symbole und Begriffe die von Abū Kāmil besprochenen Algorithmen und geometrischen Beweise einwandfrei rekonstruiert und auch für Nicht-Mathematiker verständlich erklärt zu haben. Der Mehrwert, den dieser Teil für das Verständnis des Werks erzeugt, wird bei der Lektüre sofort klar. Zunächst illustriert Rashed die 70 Probleme, die Abū Kāmil im ersten Buch gelöst hat (S. 53-111), dann illustriert er Abū Kāmils Anwendung im zweiten Buch auf die Geometrie bei den Fünf- und Zehnecken (S. 113-143). Dasselbe gilt für die im dritten Buch behandelte unbestimmte Analysis (S. 145-181) und für weitere arithmetische Probleme (S. 183-195). Ebenfalls werden die im Kitāb aṭ-Ṭayr besprochenen Probleme praktischer Art, die von der Frage ausgehen, wie man für 100 Dirham verschiedene Vögel kaufen kann, mathematisch einwandfrei dargelegt (S. 197-219). Schließlich versucht Rashed den kultur- und vor allem den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, in den Abū Kāmils Werk gehört, zu rekonstruieren (S. 221-239). Dieses etwas kurze und oberflächliche Kapitel, das von Aristoteles und Euklid ausgeht, würdigt zunächst die Leistung al-Ḫwārizmīs, der die Rechenkunst durch seinen neuen Ansatz erweitert hat. Al-Ḫwārizmīs Nachfolger, zu denen Abū Kāmil gehört, haben die bei ihm angelegten Beweise mit den Sätzen aus dem zweiten Buch von Euklids Elementa gleichgesetzt und so die algebraische Beweisführung durch eine geometrische erweitert. Ebenso wurde dazu eine algebraische Terminologie, die für die Variabeln Termini wie ša'i („Sache") oder die Münzbegriffe dirham und dinār verwendet, geschaffen. Interessant ist dabei, daß Abū Kāmil als erster den geometrischen vom algebraischen Beweis unterschieden hat. Weshalb Abū Kāmil die letztlich in Aristoteles' Analytica posteriora I,2ff. angelegte und bei den spätantiken Kommentaren und arabischen Juristen und Philosophen weitergeführte Unterscheidung zwischen schlüssiger Beweisführung (burhān = ἀπόδειξις) und auf Zeichen beruhendem Beweis (dalīl = τεκμήριον) bzw. zwischen dem „wieso" (limā = διότι) und dem „daß" (inna = ὅτι) nicht übernommen hat, sondern zwischen der Ursache ('illa) und dem Zeichen (išāra), das er anstelle von dalīl verwendet, ohne ontologische Differenzierung unterscheidet, kann Rashed nicht entscheiden (S. 239): „Soit l'opposition dalīl/'illa était déjà formalisée en son temps et il s'est consciemment éloigné de cette terminologie parce qu'elle lui semblait trop 'fixiste' d'un point de vue ontologique. … Soit Abū Kāmil ne connaissait pas encore l'opposition qui allait devenir traditionnelle quelques décennies plus tard." An dieser Stelle wäre eine umfassendere Untersuchung der von Abū Kāmil verwendeten Begriffe nützlich gewesen, um seine Stellung bei der Entwicklung der arabischen Fachsprache besser einordnen zu können; das Glossar am Ende der Edition (S. 775-804) bietet dazu einen ausgezeichneten Ausgangspunkt. Der zweite Hauptteil besteht aus der zweisprachigen kritischen Edition der beiden auf arabisch erhaltenen Werke Abū Kāmils (S. 242-761). Die französische Übersetzung erscheint dem Inhalt trotz einiger Freiheiten angemessen und flüssig. Zusätzliche Anmerkungen bieten inhaltliche bzw. mathematische Erklärungen oder verweisen auf den ersten Teil. Was den arabischen Text betrifft, so erleichtert Rashed durch das Setzen vieler Vokalzeichen die Lektüre. Der kritische Apparat enthält nicht nur textkritische Anmerkungen, sondern auch Hinweise auf loci similes bzw. Zitate und Vergleiche mit der lateinischen Version und den arabischen Werken, die sich auf Abū Kāmil beziehen. Einige – meist für das allgemeine Verständnis des Inhalts irrelevante – Anmerkungen und Ergänzungen im Codex werden nur im arabischen Apparat angeführt und sind für den des Arabischen nicht mächtigen Leser nicht verwertbar.3 Da der Text der Handschrift nicht viele philologische Probleme stellt,4 sondern fast immer dieselben, wohl auf den Kopisten zurückgehenden Abweichungen von den Regeln des klassischen Arabisch aufweist, wäre es praktischer gewesen, diese Fehler entweder bei der Beschreibung der sprachlichen Merkmale des Codex anzuführen und im Text der Edition jeweils stillschweigend zu korrigieren oder aber nur bei ihrem ersten Auftreten im Apparat anzuführen: Es handelt sich bei den Substantiven um Kasus- oder Numerusfehler: so steht oft der Singular dirham statt der aus dem Kontext nötigen Pluralform darāhim (z.B. S. 293, Zeile 7), bei Pluralformen eine Genetiv/Akkusativendung -īna statt des Nominativs auf -ūna oder bei Singularen anstelle des Akkusativs auf -an der Nominativ. Die wenigen und ohne Verweis auf die Sekundärliteratur im Apparat gebotenen grammatikalischen und lexikalischen Erklärungen sind wenig hilfreich, wenn sie eine von der Standardsprache abweichende Konstruktion rechtfertigen sollen: So vermißt man etwa S. 363, Zeile 9 bei der Angabe, daß beim Verb kāna neben dem Akkusativ auch der Nominativ möglich sei, den Hinweis auf eine Parallelstelle. Dagegen hätte die Konstruktion von exklamatorischem kam mit Genetiv anstelle des Akkusativs wenigstens erwogen werden können (so hätte man vielleicht S. 285, Zeile 2: kam ša'i(in) statt kam ša'ian stehen lassen können).5 Des weiteren fügt Rashed zwischen den einzelnen Abschnitten Titel ein, ohne aber dabei klarzumachen, ob diese lediglich dazu dienen, den Text besser zu gliedern, oder ob diese seiner Meinung nach zur Originalfassung gehörten, die ein Kopist übergangen und er wiederhergestellt hat. So fügt Rashed etwa S. 299 den Zwischentitel <ḍarb wa-qisma al-ǧuḏūr> hinzu, tilgt dann aber in der nächsten Zeile das überlieferte [qāla Abū Kāmil], das er wohl für einen Zusatz des Kopisten hält. Einen ähnlichen Fall findet man S. 523 zu Beginn des Buchs über die Penta- und Dekagone, wo aber Rashed den Anfang qāla Abū Kāmil … stehen läßt. Auch in diesen Fällen wäre eine Erklärung in Form einer Anmerkung auf der französischen Seite des Texts erwünscht gewesen. Dasselbe gilt S. 409, Zeile 19, wo Rashed aufgrund der lateinischen Übersetzung eine Lücke ansetzt und diese ergänzt. Ebenso wäre an dieser Stelle auf der französischen Seite eine Anmerkung nützlich gewesen.6 Da Rashed keine Abbildungen der benutzten Handschriften bietet, wissen wir nicht, ob die von ihm in der Ausgabe reproduzierten geometrischen Figuren genau denjenigen in der Handschrift entsprechen. Insgesamt ist aber die Edition sehr sorgfältig gestaltet und weist nur wenige Druckfehler auf.7 Zum ganz überwiegenden Teil handelt es sich bei den oben aufgeführten Monita um Kleinigkeiten, die weder der Bedeutung noch der Qualität dieser Edition Abbruch tun. Insgesamt hat Rashed eine Arbeit vorgelegt, die weit über die Grenzen der Orientalistik für alle, die sich mit der Geschichte der Wissenschaften beschäftigen, eine solide und sehr brauchbare Arbeitsgrundlage bildet.
Notes:
1. Zur lateinischen Übersetzung vgl. J. Sesiano, La version latine médiévale de l'Algèbre d'Abū Kāmil, in: M. Folkerts / J.P. Hogendikk (Hgg.), Vestigia mathematica, Studies in Medieval and Early Modern Mathematics in Honour of H.L.L. Busard, Amsterdam 1993, 315-452. Zur hebräischen Übersetzung vgl. J. Weinberg, Die Algebra des Abū Kāmil Šoǧa b. Aslam, Diss. München 1935 und M. Levey, The Algebra of Abū Kāmil in a Commentary by Mordecai Finzi, Hebrew Text, Translation and Commentary with Special Reference to the Arabic Text, Madison/Milwaukee/London, 1966.
2. Die Möglichkeit einer indirekten Überlieferung antiken Wissens in der islamischen Frühzeit erwägt Rashed selbst in R. Rashed, Scienze „Esatte" dal greco all'arabo: trasmissione e traduzione, in: S. Settis (Hg.), I Greci. Storia, Cultura, Arte, Società. I Greci oltre la Grecia, vol. 3, Torino 2001, 705-740.
3. So etwa S. 353, Zeile 11, wo Rashed die explikative, marginale Glosse nicht übersetzt (ebenso S. 415, Zeile 8), oder S. 359, Zeile 19, wo Rashed angibt, daß ša'ian an dieser Stelle im Sinne von „Anteil" zu verstehen sei. Hingegen übersetzt er S. 384 die Glosse eines Abū Yūsuf, der vielleicht der Kopist der Handschrift war (vgl. S. 10), auch ins Französische.
4. Nur selten sind die Figuren falsch beschriftet (etwa auf S. 355; 499 oder 501).
5. Vgl. etwa W. Fischer, Grammatik des Klassischen Arabisch, Wiesbaden3 2002, 133, §287. Hingegen hätte man S. 245, Zeile 16 das in der Handschrift überlieferte Verb wallafa in der Bedeutung von allafa („verfassen"), das nach Rashed in keinem Wörterbuch zu finden ist, analog etwa zu waddā = addā (vgl. R. Dozy, Supplément aux Dictionnaires Arabes, vol. 2, Leiden 1881, S. 801, s.v. waddā) als vom Kopisten verwendete „vulgäre"Form ohne weiteres durch die korrekte Form allafa ersetzen können.
6. So ergänzt Rashed S. 559, Zeile 15 auf Grund der lateinischen Übersetzung den arabischen Text; S. 539 steht der Hinweis auf das Fehlen eines Begriffs in der lateinischen Version nur auf der arabischen Seite. Ebenso ergänzt Rashed den Text S. 745, Zeilen 14-16, jedoch ohne diesen Zusatz im Apparat zu rechtfertigen.
7. So etwa S. 221 antiphairesis statt antaphairesis, S. 451, Zeile 14 im Apparat nāfiṣa statt nāqiṣa, S. 509, Zeile 6 im Apparat per via statt statt per viam.
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