Reviewed by Maria Gerolemou, Open University of Cyprus (maria.gerolemou@ouc.ac.cy)
Die vorliegende Studie von Vogel-Ehrensperger ist die überarbeitete Fassung ihrer Dissertation, die im März 2011 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Das Buch thematisiert die Rezeption einer Frauengestalt aus dem Mythos, der gewalttätigen Figur Klytaimestra, in den Texten von Homer, Pseudo-Hesiod, Stesichoros, Aischylos und Pindar. Schon gleich in der Einleitung distanziert sich die Autorin von Interpretationen, die Klytaimestra bisher, jeweils dem Zeitgeist verhaftet, unterschiedlich beurteilt haben. Vogel-Ehrensperger stellt sich dagegen die Aufgabe, Klytaimestra durch eine neue Analyse der Originaltexte, die auf einer detaillierten Übersetzung mit besonderer Aufmerksamkeit für den Rhythmus bzw. die Musikalität der Texte und auf der Rekonstruktion der zeitgenössischen politisch-sozialen Parameter basiert, in einem neuen Licht zu präsentieren; allerdings führt sie keinen umfassenden Vergleich mit älteren Übersetzungen durch. Um ihr Ziel zu erreichen, expliziert die Autorin als Schlüsselbegriff ihrer Arbeit den Begriff des Übersetzers bzw. Rezipienten (S. xv). Sie meint, dass eine wortgetreue Übersetzung frei von jeglichen Andeutungen so etwas wie die reale Beurteilung Klytaimestras aus der Zeit ans Licht bringen könnte. Zunächst zu ihrem Vorgehen bei der Übersetzung: Man hätte erwarten können, dass die Autorin auf neuere Übersetzungstheorien zurückgreift,1 die die Multimedialität einbeziehen, die also auch auf nicht-verbale Medien eingehen, wie die für die Autorin und ihre Übersetzung sehr wichtigen Komponenten Singbarkeit und Hörbarkeit oder Fasslichkeit, die die Rolle des Publikums und seine Beziehung zu dem Text beschreiben.2 Darüber hinaus gehört zu einer im holistischen Sinne werkgetreuen Übersetzung eines Theaterstücks auch die Spielbarkeit des Textes; letzterer Punkt beschäftigt die Autorin nur am Rande. Hingegen fordert der Traktat Schadewaldts3 über die Übersetzung antiker Texte, dessen Hinweise die Autorin für ihre Arbeit übernimmt, dass die wortgetreue wissenschaftliche Übersetzung auf einer gründlichen Kenntnis der historisch-kulturellen Umgebung auf seiten der Altertumswissenschaftler fußt. Zweitens zum Gebrauch des Begriffs „Rezipient": Die Autorin versucht den „impliziten", vom Text selbst gestalteten Rezipienten mit dem des historischen Publikums des 5. Jhs. zu identifizieren. So ist sie z.B. der Meinung, dass Orestes bzw. Apollon mit ihrer Betonung des Vaterrechts in der Oresteia das Sprachrohr eines historischen Publikums seien (cf. S. 271, 211f., 287, 312, 326f., 332, 334, 403). Jedoch darf das attische Drama nicht einfach als direkter Spiegel der Athener Gesellschaft des 5. Jhs. verstanden werden. Obwohl es natürlich auf die Athener Gesellschaft hin orientiert ist, sind seine Figuren doch mythische Figuren der Vergangenheit, und es spielt meist weit entfernt von Athen, dazu im festlichen Rahmen, es ist also weder bloße Darstellung noch Spiegel von Athen.4 Darüber hinaus können wir kaum Aussagen über historische Rezipienten machen, da uns Rezeptionszeugnisse fehlen. Das erste Kapitel des Buches, „[Daten] zur mythologischen Figur Klytaimestra", befasst sich kurz mit der im Mythos überlieferten Genealogie Klytaimestras. Interessant und wichtig für die Argumentation des ganzen Buches ist auch die Diskussion des in den Texten überlieferten Namens der Figur als Klytaimestra oder Klytaimnestra. Die zweite Bezeichnung stammt aus mittelalterlichen Homer-Handschriften und besteht aus Κλυταί und μνήστρα (von μνηστός, ehelich), was sich auf die drei Ehen Klytaimestras (mit Tantalos, Agamemnon, Aigisthos) bezieht. Diejenige Form des Namens scheint jedoch die ursprüngliche zu sein, die aus Κλυταί, d.h. berühmt, und μήστρα (von μήδομαι, sinnen, planen), besteht. Diese Eigenschaft der Klytaimestra, die sich damit schon in ihrem Namen bemerkbar macht, bildet auch den Schwerpunkt ihrer Rezeption in den untersuchten Texten: Ist doch Klytaimestra für ihre als männlich geltende intellektuelle Eigenschaft des Planens berühmt. Im zweiten Kapitel mit dem Titel „Klytaimestra im Zeugnis der homerischen Epen" wird die Figur Klytaimestra sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee diskutiert. In der Ilias wird sie nur einmal im ersten Gesang von Agamemnon erwähnt und zwar abweisend im Vergleich zu der Nebenfrau Chryseis (V. 113); dies könnte gleichsam als Rechtfertigung in Hinsicht auf die Treulosigkeit Klytaimestras in der Odyssee wirken und zwar im Gegensatz zu Penelope, der Odysseus keine andere Frau zumutet. Dagegen wird in der Odyssee Klytaimestra mehrere Male erwähnt, da die Geschichte Agamemnons, d.h. seine Heimkehr und die ihn im Oikos treffende Gefahr, als Folie zu Odysseus' Geschichte wiedergegeben ist. Klytaimestra ist weiterhin das Gegenteil von Penelope, und Orestes' Handeln gegen Aigisthos wird als Muster für den jungen Telemachos hingestellt. Die Autorin konzentriert sich auf die Darstellung von Klytaimestra in den verschiedenen Redeberichten (Zeus, Athene, Nestor, Menelaos, Agamemnon) bzw. auf ihren Anteil an dem Mord an ihrem Ehemann. Obwohl Klytaimestra in den Epen eine passive Rolle beim Mord an Agamemnon spielt, wird sie implizit als Komplizin des Aigisthos mitgenannt. Im dritten Kapitel („Klytaimestra in Texten nach Homer bis Aischylos/Pindar") diskutiert die Autorin die Darstellung Klytaimestras in dem pseudo- hesiodeischen Frauenkatalog (zwei Fragmente, fr. 15 Hirschberger / 23a M.-W., fr. *8 H. / 176 M.-W. / 93 Rzach) und bei Stesichoros fr. 46 und fr. 42 (Oresteia). Im ersten pseudo-hesiodeischen Fragment (fr. 15/23a) muss eine Kennzeichnung Klytaimestras in V. 30 in einer Lacuna ergänzt werden; hier bespricht die Autorin fünf bisher vorgeschlagene Ergänzungen und entscheidet sich für Lobels5 Konjektur λιπεσήνωρ, „Frau, die ihren Mann verlassen hat". Klytaimestra als die Frau, die ihre Ehemänner verlässt, ist auch das Thema der nächsten zwei Fragmente (Ps. Hesiod fr. *8/176/93, Stesich. Fr. 46 PMG/PMGF), während fr. 42 PMG/PMGF des Stesichoros von großer Bedeutung für die spätere Bearbeitung des Themas vor allem durch die Tragiker ist. Es deutet die wesentliche Mittäterschaft Klytaimestras an dem Mord an Agamemnon an, indem es ihren Angsttraum kurz vor der Rachetat ihres Sohnes Orestes thematisiert. Das vierte und umfangreichste Kapitel im Buch („Klytaimestra in der Oresteia des Aischylos") steht vor dem 5. und letzten Kapitel des Buches über die pindarische Klytaimestra, da die Autorin glaubt, dass Pindar von der Oresteia des Aischylos beeinflusst wurde. Hier, in der aischyleischen Oresteia, wird das männliche Herz und der nach Herrschaft strebende Aspekt Klytaimestras in Kombination mit der Verletzung ihrer Rolle als Mutter und Frau unterstrichen. Denn es wird gezeigt, dass gerade diese Kombination ihr in ihren Augen ein höheres Recht auf ihre Kinder bzw. Tochter erteilt und sogar das Recht, den Vater ihres Kindes, der ihm geschadet hat, zu bestrafen, und ferner auch das Recht, sich selbst einen neuen Partner zu suchen und ihren Mann, der sie für andere vernachlässigt, zu bestrafen. Das erste Unterkapitel befasst sich mit dem ersten Teil der Trilogie, dem Agamemnon, und bildet den Grundstock der Untersuchung von Vogel-Ehrensperger. Im Agamemnon steht Klytaimestra im Vordergrund, da sie, entgegen der Tradition des Mythos, als alleinige Mörderin ihres Ehemanns dargestellt wird. Am Anfang wird jedoch die Hybris Agamemnons, die vor dem Krieg bei der Opferung Iphigenies zugunsten einer fremden Frau und nach dem Krieg in den Freveltaten bei der Stadteroberung in Erscheinung tritt, sowohl vom Chor als auch von Klytaimestra und dem Boten betont. Im Gegensatz dazu gewinnt Klytaimestra zunächst in ihrer Stellung als Regentin den Respekt des Chors der Alten. In der Teppichszene, dem Höhepunkt der Handlung, soll Agamemnon noch eine Freveltat begehen; er wird diesmal von seiner Frau und unter der Mitwirkung des Rachegeistes des Atridenhauses, vor dessen Erwachen schon in der Parodos gewarnt wurde, zu seiner Hybris überredet, die wiederum zum δωματοφθορεῖν führt (S. 144-5). Die Teppichszene, die der kunstvollen Rede Klytaimestras folgt, in der sie ihre Leiden im Oikos während des Krieges beschreibt, funktioniert geradeso wie ein Verhör; sie ist eine getarnte Anklagerede gegen Agamemnon von seiten Klytaimestras mit πίστεις, Beweismitteln (cf. V. 162-4), und zielt darauf ab, Agamemnons Hybris hervorzuheben, jedoch gleichzeitig auch Klytaimestras weiblichen Trug und ihren verkehrten Anspruch, als Frau männliche Positionen einnehmen zu wollen, zu beleuchten. Doch mit dem Auftritt Kassandras auf der Bühne beginnt Agamemnons Schuld allmählich geringer zu erscheinen, da seine Schuld bzw. Hybris, die er mit der Tötung Iphigenies begangen hat, von der Seherin als Folge der Thyestesgeschichte dargestellt wird, während Klytaimestras kommende Schuld und der Mord an ihrem Mann voller Abscheu über ihre genderwidrige Tat geschildert werden (cf. V. 1231f.). Nach dem Mord an ihrem Mann möchte Klytaimestra in ihrer Apologie (zusammen mit ihrem Anspruch, als Erinys ihrer Tochter im Recht gehandelt zu haben) auch als Teil des Generationenhasses beurteilt werden. Der Chor kann aber nicht als Richter entscheiden, ob Agamemnon oder Klytaimestra schuldig sei. Dennoch wird nun in seiner Unentschiedenheit seine negative Einstellung Klytaimestra gegenüber offenbar, da sie, eine Frau, es gewagt habe, ihren Ehemann zu bestrafen. Klytaimestra ist isoliert, und nur ihre Verbindung mit Aigisthos kann ihr Hilfe bringen. Schon am Ende des Agamemnon entscheidet sich Klytaimestra, sich von der Rolle der wütenden Mutter-Erinys zu distanzieren (V. 1569- 1576), denn sie will nicht das nächste Opfer gemäß der lex talionis sein. In den Choephoren spielt Klytaimestra dementsprechend eine passive Rolle. Sie ist von den Frauen des Chors und der Tochter Elektra isoliert und ihr Hauptargument, sie sei rechtmäßige Rächerin ihrer Tochter, spielt keine Rolle mehr, denn das Opfer der Iphigenie wird nur am Rande erwähnt. Den Traum, den Klytaimestra nun hat, und die λιταί, die sie schickt, um den Geist Agamemnons milde zu stimmen, verwenden Elektra und der Chor gegen sie, um die lex talionis dennoch wirken zu lassen, jedoch nicht gegen die strafende Mutter, sondern gegen die treulose Ehefrau. Eine Gerichtsszene wird auch in diesem Stück aufgeführt, und zwar in der Stichomythie zwischen Sohn und Mutter, auch hier mit Beweisen (dem Tuch bzw. Netz der Mordtat, cf. V. 1014-17). Jedoch wird die Bedeutung des Gerichtsverfahrens reduziert: Es geht hier, anders als im Agamemnon, um eine innerfamiliäre Angelegenheit, um die Treulosigkeit Klytaimestras, nicht um gerechte Strafe, und so findet das Tribunal hier vor den Augen von Sklavinnen, Dienerinnen aus Troja und nicht wie im Agamemnon vor dem edlen Chor der Geronten statt. Klytaimestra wird von Orestes mit dem Tode bestraft, ihr Schmerz wird, ähnlich wie im Agamemnon, in die Leidenskette des Atridenhauses eingereiht. In den Eumeniden ist die Anwesenheit Klytaimestras begrenzt; sie tritt nur als Traumbild, in der Nähe der Rachegöttinnen, der Erinyen, als oberste Erinys auf. Hier beschwört sie das Übel herauf, das sie von ihren Liebsten erfahren habe, und sie hat auch, wieder in der Art einer Beweisführung vor Gericht, Beweise dafür, die Wunden am Herzen (V.103). Im Grunde wird das Motiv der Gerichtsverhandlung in den Eumeniden auf die Spitze getrieben. Diesmal besteht das Gericht aus unabhängigen Bürgern Athens und nicht aus in den Oikos der Atriden involvierten Personen. Deswegen wird der Kasus des Orestes in neuem Licht gesehen, es werden von beiden Seiten vorbereitete Argumente gehört, während bis dahin in den Gerichtsszenen im Agamemnon und in den Choephoren sowohl Agamemnon als auch Klytaimestra jeweils unvorbereitet ihre Anklage gehört hatten. Schlussendlich siegt der Vorrang des Mannes über die Frau als Argument, ausgesprochen von Apollon und unterstützt von Athene und der Hälfte der Athener. Eine kurze Bemerkung über die wahrscheinliche Abwesenheit Klytaimestras in dem Satyrspiel Proteus, das die Trilogie vervollständigt, schließt die Argumentation der Autorin über Klytaimestra in der Oresteia des Aischylos. Das letzte Kapitel behandelt die Figur Klytaimestras in der 11. Pythie Pindars. Es geht hier um die Ehre des Knaben Thrasydaios, wobei der Atridenmythos im Vergleich zu vorbildlichen mythischen Figuren als negatives Paradigma wirkt. Die gerichtliche Form der Mythenerzählung wird auch in Pindars Werk spürbar: Sie konzentriert sich in dem Dilemma des Ich-Erzählers, ob Klytaimestra ihren Mann getötet hat, um Iphigenies Tod zu rächen, oder wegen des Liebeslagers mit dem anderen Mann Aigisthos. Es stehen sich auf der einen Seite Klytaimestras Gewaltsamkeit als Mörderin und ihre Macht, auf der anderen Seite ihr Ehemann, der Heros vor Troja, der gleichzeitig aber auch „Hybristes", Mörder seiner Tochter ist, und Orestes diametral gegenüber. Frauenmacht kämpft gegen männliche Herrschaft und umgekehrt, damit schließlich wieder männliche Ordnung durch Orestes überwiegt. Eine Schlüsselstelle nimmt, wie im Agamemnon, Kassandra ein; in ihrem Verderben treffen sie sich, sowohl Klytaimestra als auch Agamemnon. Um zu resümieren: Obwohl das Buch ohne methodologisches Kapitel bzw. Programm vorgeht und die Argumente und die sehr guten Text- Bemerkungen recht ungeordnet auftreten und ihre Funktion nicht immer erkennbar ist, ist diese Studie doch ein nützliches sprachliches und interpretatives Instrument. Die zunehmend zum Negativen neigende Darstellung von Klytaimestras Tat in den untersuchten Texten, gepaart mit der betonten Hybris des Agamemnon, die in der Form einer Beweisführung vor Gericht ausgearbeitet wird, ist ein neues Ergebnis, das gerade aus der angestrebten Neubelebung der Originaltexte resultiert.
Notes:
1. Siehe z.B. Reiß K. (1971), Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik: Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen, München.
2. Hörmanseder, F. (2008), Text und Publikum. Kriterien für eine bühnenwirksame Übersetzung im Hinblick auf eine Kooperation zwischen Translatologen und Bühnenexperten, Tübingen, Stauffenburg.
3. (1958), Die Wiedergewinnung antiker Literatur, Göttingen.
4. So in Betreff ihrer Übersetzungsarbeit: Blondell R., Gamel M-K., Rabinowitz N. S., Zweig B. (1999) (ed. and transl.), Women on the Edge, Four Plays by Euripides. Alcestis, Medea, Helen, Iphigenia at Aulis, New York, London.
5. Lobel, E. (1962), The Oxyrhynchus Papyri XXXVIII, London: 7-11.
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