Reviewed by Thomas Gärtner, Universität Köln (th-gaertner@gmx.de)
In den Supplementen der Mnemosyne (Band 311) legt Paul Murgatroyd einen neuen Kommentar zum vierten Buch der Argonautica des Valerius Flaccus vor. Auf eine sehr knappe Einleitung (1 – 3), eine Liste der von Ehlers´ Teubneriana abweichenden Lesarten (4) und eine Auswahlbiographie (5 - 8, Murgatroyds ausführlichster Vorläufer ist der bis V. 343 reichende Teilkommentar von Korn) folgt der von Murgatroyd selbständig gestaltete Text von Buch IV (ohne kritischen Apparat) und der Kommentar. Der Kommentar weicht, wie in der Einleitung erklärt wird, von der herkömmlichen Art der Textkommentierung - und auch von Murgatroyds eigenen Tibullkommentaren insofern ab, als er sich weniger auf Textkritik und grammatische Exegese als auf eine systematische Auswertung der von Valerius Flaccus herangezogenen Vorbilder konzentriert. Dabei werden die Argonautica sicher zurecht als eine fortlaufende, sehr bewußt durchgeführte Auseinandersetzung mit dem gleichnamigen Vorgängerwerk des Apollonius Rhodius angesehen, und Murgatroyd gelangt mit dieser Betrachtungsweise zu interessanten Ergebnissen, etwa daß der Leser nach dem Ende von Buch III meinen könnte, die Episode um den Verlust von Hercules und Hylas ende ähnlich wie bei Apollonius, aber durch den Neuauftakt in Buch IV und die Traumerscheinung des Hylas überrascht wird (Murgatroyd 32 f.) oder daß die drängende Bitte Apolls um die Erlösung des Prometheus (Arg. IV 62 f. In quem alium Alciden, in quae iam tempora differs/ Caucaseum, rex magne, senem? ) intertextuell als Ablehnung der Verschiebung des Prometheus-Themas auf einen späteren Zeitpunkt bei Apollonius Rhodius zu verstehen ist (Murgatroyd 59). In Murgatroyds Kommentierung läßt sich das Bestreben feststellen, die vollwertige intertextuelle Präsenz auch anderer Vorbilder des Valerius Flaccus – abgesehen von Apollonius Rhodius – auf Schritt und Tritt nachzuweisen. Was die Aeneis Vergils anbelangt, ist dies mehr oder minder selbstverständlich. Gewisse Zweifel ergeben sich mitunter bei gattungsfernen Vorbildern des Valerius Flaccus, z.B. wenn in 606 f. (Murgatroyd 290) die Warnung des Sehers Phineus vor den Amazonen in einen konkreten Bezug zur Erotodidaxe Ovids in der Ars amatoria gesetzt wird oder wenn gar in 745 (Murgatroyd 352 f.) einer Reminiszenz an das Hero-Leander-Briefpaar die abstrakte Wertigkeit „upcoming decease of two people" beigelegt wird, die sich erst im Tod der beiden Argonauten Tiphys und Idmon zu Beginn des fünften Buchs realisieren soll. Murgatroyd reflektiert gelegentlich durch hypothetische Wendungen auf die Unsicherheit solcher konkreter intertextueller Ausdeutung; man würde sich eine kritische graduelle Beurteilung der Wahrscheinlichkeit in jedem Einzelfall wünschen, die zu einer Scheidung zwischen Spreu und Weizen führen könnte. Wie immer man über solche Subtilitäten urteilen mag: Der Kommentar Murgatroyds bietet eine umfassende, an philologischer Detailfreude kaum zu überbietende Aufarbeitung des Hintergrunds des kommentierten Textes und wird als Standardkommentar zu diesem Buch die erfreulich fortschreitende Kommentierung der Dichtung der „silbernen" Latinität bereichern. Es folgt eine Liste von Stellen, an denen der Kommentar dem Rezensenten korrektur- oder ergänzungsbedürftig erschien (die relative Kürze dieser Liste bekundet in Anbetracht der Schwierigkeit des Autors und des Umfangs von über 750 Hexametern weitgehende Übereinstimmung mit den Deutungen Murgatroyds): 26 f.: Eine der wenigen ausführlichen textkritischen Diskussionen. Murgatroyd folgt Ehlers und schreibt Hoc nemus, hoc (Shackleton Bailey : haec codd.) fatis mihi iam domus, improba quo me/ Nympha rapit saevae monitu Iunonis, in amne (Bury : amnes codd.). Dabei verbindet er nemus … in amne i.q. nemus iuxta amnem. Aber eine neue Quellgottheit kann kaum sagen „dieser Hain neben dem Fluß ist mein Haus". Um die vieldiskutierte Redundanz quo … in amnes aufzubrechen, empfiehlt sich eher die von Courtney (CR 76, 1962, 116) aufgegriffene Änderung von quo in quae durch Köstlin, verbunden mit einer anderen Interpunktion: … domus: improba quae me/ Nympha rapit saevae monitu Iunonis in amnes,/ Nunc Iovis accessus et iam mihi limina caeli/ Conciliat iungitque [toros] et fontis honores. Erst der Rekurs auf die Vergöttlichung begründet fatis … domus. Man beachte, wie monitu Iunonis durch Iovis accessus und rapit … in amnes durch limina caeli übertrumpft wird. Die Nymphe vergewaltigte Hylas nicht nur, sie bot ihm auch eine neue Existenz, was gut zu der von Murgatroyd herausgearbeiteten tröstlichen Tendenz der Partie paßt. 42: Murgatroyd deutet voce sequi nicht als „verfolgt mit der Stimme", sondern als „verfolgt unter Rufen": „a sleepwalking Hercules is taking some steps after Hylas". So verstanden stünde voce sequi eigentümlich neben der anderen Metapher rumpere questus, die auch nur eine akustische Äußerung bezeichnet, es ergäbe sich ein Widerspruch zu Corpus hebet somno (41), und exsilit (50) muß neugedeutet werden (nicht „jumps up", sondern „rushes forward"). Den Anlaß für diese forcierte wörtliche Auffassung von sequi bildet die von Murgatroyd erstrebte genaue Übereinstimmung mit dem folgenden Eisvogelgleichnis, wo jedoch Certa sequi (47) nur den Entschluß zum Folgen, nicht aber ein tatsächliches Folgen bezeichnet, woran der Eisvogel durch das Untergehen seines Nestes gehindert wird. 57 tacitumque pudet potuisse relinqui wird in eigentümlicher Weise auf das Pflichtgefühl des Hercules bezogen. In Wirklichkeit geht es um das (nach dem Verlust des Hylas wiederaufkeimende) heroische Selbstbewußtsein des Hercules, der Scham empfindet, daß er als bedeutendster Held unter den Argonauten so einfach zurückgelassen werden konnte. 72 stupet ipse dei clamoribus ales. Die eindrucksvolle Vorstellung, daß der Geier bestürzt ist über das Schmerzgeschrei des von ihm gemarterten Gottes Prometheus, wird entstellt von Murgatroyd, der dei (sc. Iovis) … ales verbindet und diese Junktur gemäß analogen Bezeichnungen des Adlers als „Vogel des Jupiter" vom Geier verstehen will. 74: Auch die Verbindung von gravis (passendes Attribut zu Erinys) mit Iapetus erscheint wenig glücklich. Iapetus ist einer von mehreren Petenten, die – wie Murgatroyd herausarbeitet – in durchaus planvoller und berechtigter Weise für Prometheus eintreten und sollte daher nicht als „beschwerlich" oder „lästig" bezeichnet werden. 102: Murgatroyd will Non muris cinxere domus auf das Fehlen zivilisierter Privathäuser, nicht auf das Fehlen von Stadtmauern beziehen. Doch paßt dieses Motiv in den politischen Zusammenhang des völligen Vertrauens auf den König Amycus (das die Bebrycer zum Verzicht auf Verteidigungsmaßnahmen bringt)? Die besprochene Partie präpariert die Leichtigkeit, mit welcher die Argonauten später bei Valerius Flaccus (anders bei Apollonius Rhodius, vgl. Murgatroyd 167 f.) die verbleibenden Bebrycer vertreiben, die sich ohne weiteres in die Bergwälder zurückziehen (315 f.), also bislang gerade nicht in Höhlen hausten, wie Murgatroyd meint. 126 maioraque sanguine nostro nicht „more powerful than my might", sondern „bedeutender als die Abstammung von mir". 130: reges preme, dure, secundos wird als ernstgemeinte Aufforderung gedeutet, die sich an Neptuns Sohn Amycus richten soll („bedränge nur zweitrangige Könige, nicht solche wie die Argonauten"; ähnlich schon der bei Courtney zitierte Nairn, CR 12, 1898, 361), nicht an Jupiter (in welchem Falle man, wie Murgatroyd richtig hervorhebt, divos … secundos erwarten müßte: „bedränge nur zweitrangige Götter, nicht mich"). Die Möglichkeit, daß preme gar nicht ernstgemeint, sondern eine ironische Aufforderung an Jupiter ist („bedränge Deine Vizekönige ruhig weiter"), wird von Murgatroyd überhaupt nicht erwogen. Nachdem Neptun seinem Sohn gesagt hat, daß er seinen Tod nicht verhindern kann, wendet er sich in zynischer Weise an den zuvor apostrophierten Jupiter und fordert ihn auf, mit den Schikanen gegen seine Vizekönige fortzufahren, dabei anknüpfend an sic te olim pergere sensi (121, mit Bezug auf den früheren Fall der Tötung Orions); durch diesen engen inhaltlichen Anschluß an die frühere Jupiter-Apostrophe wird der abrupte Adressatenwechsel nachvollziehbar. Diese ironische Deutung kann im Sinne des von Murgatroyd herausgearbeiteten Bildes eines kraftlosen (unhomerischen und unvergilischen, vgl. Murgatroyd 84 f.) Neptun verstanden werden, könnte aber auch eine leise Drohung enthalten. In jedem Fall wird ein ähnlich gespanntes Verhältnis zwischen den göttlichen Brüdern zugrundegelegt wie in der Rede des Dis zu Beginn des achten Thebais-Buchs (34 ff.). 240 Madvigs (Adversaria critica II 143) Konjektur celera[s] wird zurückgewiesen mit dem Argument „Pollux does not seem to be showing haste", dürfte sich aber neben infelix … puer eher auf das jugendliche Lebensalter des Helden beziehen. 252 f.: Murgatroyd folgt letztlich Ehlers Konjektur urgentis post saeva (sera codd.) piacula fati/ Nescius, wonach piacula in dem sekundären Sinn „Verbrechen" mit dem Allerweltsadjektiv saeva verbunden wird. Die Vorstellung „später Vergeltung" (für die Opfer des Amycus) wird man nicht gern aufgeben, zumal sera piacula durch Verg. Aen.VI 569 Distulit in seram commissa piacula mortem gestützt wird. Diese Junktur möchte man als Objekt zu urgentis (vgl. OLDs.v. 12 a „to press on with vigour an activity or undertaking") verstehen. Also muß man post entweder adverbial verstehen („unkundig des Geschicks, welches im Nachhinein [nach den Untaten] späte Vergeltung erzwingt", mit zugegebenermaßen verwirrender Wortstellung) oder obelisieren. 253 extremum hoc („dieses letzte Mal") wird in sonderbarer Weise als elliptische Parenthese (sc. evenit oder sc. fecit) interpungiert. 298: Die durch Heinsius´ Konjektur elatus zurecht ersetzten handschriftlichen Varianten velatus und vallatus werden von Murgatroyd inhaltlich widerlegt, sind aber vor allem unmetrisch. 317 ff.: Haec sors, haec Amycum tandem manus arcuit ausis/ Effera servantem Ponti loca vimque iuventae/ Continuam et magni sperantem tempora patris./ Tenditur ille ingens hominum pavor arvaque late/ Occupat. In der ausführlichen Kommentierung des „Nachrufs" auf den toten Amycus fehlt das den Gesamtablauf unverkennbar prägende vergilische Vorbild Aen. II 554 ff. (der Tod des Priamus): Haec finis Priami fatorum, hic exitus illum/ Sorte tulit Troiam incensam et prolapsa videntem/ Pergama, tot quondam populis terrisque superbum/ Regnatorem Asiae. iacet ingens litore truncus/ Avulsumque umeris caput et sine nomine corpus. 380: Wenn candentes … armos direktes Objekt zu exhorruit ist („the painful state of" elliptisch mitverstanden), wie ist dann Verbere zu konstruieren? 440: Bei der Kommentierung von Proxima quaeque legens (sc. Phineus) beruft sich Murgatroyd nur auf die seltene Bedeutung „mustern" von legere (Verg. Aen.VI 755 und hiernach Sil. Pun. XII 569) und nimmt dann zu einer poetologischen Deutung von legens Zuflucht. Hilfreich wäre jedoch zunächst ein Verweis auf die Bedeutung oram legere (cf. OLD s.v. 7 b), die hier in kühner Weise von dem an der Küste Entlangsegelnden auf den diese Küstenfahrt etappenweise Beobachtenden übertragen wird. 528 Mox tamen et sociae victor petit agmina puppis. Gegen Heinsius´ Konjektur pubis wäre auch Aen. VI 899 anzuführen: Ille viam secat ad navis sociosque revisit. VF komprimiert den zweigliedrigen vergilischen Ausdruck. 652: Die harte syntaktische Isolierung des elliptisch verstandenen Perculerat (sc. timor omnes) ist kaum die Lösung des textkritischen Problems. 674 f. „sequor, o quicumque deorum"/ Aesonides „vel fallis" ait. Murgatroyd entscheidet sich für Delzens Konjektur nil fallis. Aber vel fallis ist (als Aprosdoketon anstelle etwa von ducis verstanden) sprachlich ohne Anstoß und stilistisch jeder Konjektur überlegen. Nachdem bereits in 655 die erfolgreiche Wirkung von Jasons Rhetorik auf seine Gefährten herausgestellt wurde, ist seine hier besprochene Äußerung nicht als an dritte gerichtet, sondern im Sinne der Ethopoiie Jasons als Ausdruck eines bis ins Paradoxe gehenden Gottvertrauens zu sehen. Mit vel fallis gibt Valerius Flaccus seinem Vorbild Aen. IV 576 f. (Aufbruch von Dido, ebenfalls zu Schiff) sequimur te, sancte deorum,/ Quisquis es eine überraschende Wendung. 701 f. Die Junktur pallentia …/ Oscula wird auf die Furcht von Hercules und Theseus bezogen, nicht etwa (wie von Früheren) auf ihre unmittelbar vorausgehende Rückkehr aus dem Totenreich: „there seems to be no evidence for a living person so contaminated during a trip to Hades" – doch vgl. Sen. Phaedra 832 (über den gerade aus der Unterwelt zurückgekehrten Theseus) Ni languido pallore canderent genae, was hier Valerius Flaccus mit Sicherheit vorgeschwebt hat. 747 Ultor ego, atque illuc cunctis accensus in armis/ Tunc aderam. Weder "armed to the teeth" noch "amid all his troops" gibt accensus angemessen wieder. Reuss konjizierte luctu succensus (Phil. 58, 1899, 436), doch braucht man auf ein Attribut zu armis nicht zu verzichten: Die ähnliche kriegerische Reaktion eines Bruders (Absyrtus nach Medeas Flucht, VIII 136 hinc subitis † inflexit † frater in armis) empfiehlt die Herstellung von subitis für cunctis (verschrieben unter dem Einfluß des Wortendes von illuc); zum Nebeneinander von subitus und accensus vgl. auch Aen. IV 697 subitoque accensa furore. Lycus unternahm sofort in großer Eile einen Rachefeldzug, aber die Argonauten kamen ihm trotzdem zuvor. 761 f. Communesque vocant superos, quorum eruta nutu/ Bebrycia et votis pariter praedaque fruuntur. Murgatroyd polemisiert gegen Herausgeber, die hinter Bebrycia ein Komma setzen. Doch mit Communesque korrespondiert eindeutig pariter, und das Bedenken Murgatroyds, votis pariter praedaque fruuntur wäre nicht beim Gelage möglich, erledigt sich dadurch, dass dieses Gelage in einem mit bebrycischen Spolien geschmückten Palast stattfindet (738 f.): Alle Gelageteilnehmer haben also mit diesen Spolien die Erfüllung ihrer Gebete ständig vor Augen.
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