Tuesday, March 1, 2011

2011.03.07

Jana Grusková, Untersuchungen zu den griechischen Palimpsesten der Österreichischen Nationalbibliothek. Codices Historici Codices Philosophici et Philogici Codices Iuridici. Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse 401; Veröffentlichungen zur Byzanzforschung 20. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2010. Pp. 169. ISBN 9783700168027. €72.30.

Reviewed by Thomas J Kraus, Neumarkt i.d.OPf. (t.j.kraus@web.de)

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Preview and Table of Contents

Antike, Spätantike und Mittelalter bieten so manche verblüffende Geschichte aus der faszinierenden Welt der Bücher. Eine davon wird in dem vorliegenden broschierten Band näher beleuchtet: Anna Grusková beschäftigt sich mit Palimpsesten der Österreichischen Nationalbibliothek. Dabei handelt es sich um Manuskripte aus Tierhaut, auf denen der zuerst geschriebene Text später entfernt und das Pergament schließlich mit anderem Text nochmals beschrieben wurde. Dieser Vorgang einer Wieder- oder Neuverwendung eines bereits in Gebrauch gestandenen und nun verworfenen Manuskripts lässt darauf schließen, dass der Beschreibstoff als wertvoll erachtet wurde. Dies gilt zumindest insoweit, als dass sich der beachtliche Aufwand des Abschabens, Abwaschens oder Abreibens der ersten Beschriftung und ein nochmaliges Beschreiben von Pergament also offensichtlich lohnten. Jedenfalls ging dabei zunächst Text verloren, dessen Reste, falls überhaupt, früher nur unter erheblichem Aufwand und höchstens fragmentarisch wieder hergestellt werden konnte. Allerdings ermöglichen die technischen Fortschritte des Computerzeitalters heute bessere und genauere Untersuchungen von Palimpsesten, ohne dass diese in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese Möglichkeiten wendet Grusková nun auf fünf Codices an, die allesamt Abschnitte mit entfernter Unter- und darüber aufgetragener Oberschrift enthalten. Die behandelten Codices decken in ihrer Oberschrift das elfte bis fünfzehnte und in ihrer Unterschrift das neunte bis zwölfte Jahrhundert ab. Durch die Detailuntersuchung der einzelnen Codices und ihrer unterschiedlichen Abschnitte gelingen der Autorin wertvolle Rückschlüsse auf die Buchkunde des Mittelalters. Gleichzeitig ermöglicht dies Einblicke in Kodikologie, Paläographie, Textabfolge und – natürlich – den Umgang mit dem Beschreibstoff Pergament und mit nicht mehr verwendeten Texteinheiten.

Wer erinnert sich nicht an die fesselnden Geschichten um Constantin von Tischendorfs Entdeckung und Arbeit am Codex Sinaiticus? Doch mindestens eine ebenso große Leistung ist die Entzifferung der unteren Schrift des Codex Ephraemi Syri Rescriptus. Dabei handelt es sich um einen Bibelcodex aus dem fünften Jahrhundert, der im sechsten und neunten Jahrhundert überarbeitet wurde. Im zwölften Jahrhundert wurde die Schrift abgewaschen und das Pergament mit Abhandlungen von Ephraim dem Syrer beschriftet. Tischendorf bediente sich bestimmter Chemikalien und konnte so die untere Schrift gut sichtbar machen. Allerdings nahm das Pergament dabei auch erheblichen Schaden.1 In ihrer Einleitung (17-28) behandelt Grusková kurz die Geschichte der Forschung an Palimpsesten und verweist auf die technischen Fortschritte bis hin zu hochauflösenden Digitalaufnahmen, die heute ein Material schonendes und genaueres Arbeiten erlauben. Jedoch kann nur dann etwas sichtbar gemacht werden, wenn ein Manuskript überhaupt noch Spuren der ursprünglichen Tinte aufweist, also der Prozess des Entfernens („wieder schaben, wieder reiben", wie Gruskova in Bezug auf das Griechische übersetzt),2) nicht absolut „erfolgreich" war. Als Palimpseste definiert Grusková Pergamente, „die nach der Tilgung des ursprünglichen griechischen Textes für die Herstellung bzw. für die Restaurierung anderer Handschriften verwendet wurden. Die griechische Schrift befindet sich demnach in der unteren, getilgten Textschicht, wobei in der oberen späteren Schicht Texte in beliebiger Sprache stehen können" (17). Manche Codices bestehen vollständig aus Palimpsestblättern, andere nur teilweise. Manchmal kam ein bestimmter Text außer Gebrauch, wenn seine Sprache in einem bestimmten Kontext nicht mehr verstanden wurde (vgl. im Falle des Codex Ephraemi Syri Rescriptus das Griechische in einer syrischen Umgebung). Möglicherweise war ein Text aber auch inhaltlich nicht mehr aktuell bzw. war der Wechsel von der Majuskel- zur Minuskelschrift Ausschlag gebend dafür, dass Text entfernt wurde. Für Palimpseste in Frage kamen jedoch auch fragmentarische, das heißt verstümmelte und unvollständige Codices sowie solche, die in mehreren Exemplaren mit dem gleichen Inhalt vorhanden waren (18). Im Rahmen des Forschungsprojekts „Rinascimento virtuale – Digitale Palimpsestforschung. Rediscovering written records of a hidden European cultural heritage" (2001-2004) wurden bereits zahlreiche neue Einzelergebnisse über die Palimpsest-Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek veröffentlicht. Insgesamt wurden mehr als fünfzig griechische Handschriften untersucht, wobei konnten die in ihnen enthaltenen Texte identifiziert werden konnten. Die im vorliegenden Band behandelten fünf Manuskripte gehören zu den Beständen der Codices Historici, Codices Philosophi et Philologici und Codices Iuridic und wurden bereits in den Katalogen von Herbert Hunger und Herbert Hunger mit Otto Kresten veröffentlicht.3 Grusková möchte „einen Überblick über den aktuellen Stand der Untersuchungen zu den unteren Handschriften" (25), neue Beobachtungen und Ergänzungen bieten, was ihr auch in exzellenter Weise gelingt. Außerdem will sie ihr Buch als „work in progress" verstanden wissen, da die Arbeit an den Codices noch nicht abgeschlossen ist (26). Weitere Arbeiten zu anderen griechischen Palimpsest-Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek will Grusková in „separaten Aufsätzen veröffentlichen" (25). Schließlich erfahren die Leserinnen und Leser noch Relevantes über die Methode und die Art der Darstellung, die auch aus der individuellen Behandlung der fünf Manuskripte ersichtlich wird.

Dann widmet sich Grusková den einzelnen Handschriften, führt für jede eine Kurzinformation hinsichtlich Folien, Recto/Verso, Datierung und Autor/Text an. Auch legt sie für jede zunächst eine Bibliographie vor und dann folgt eine kurze Einführung. Spezifisch für Oberschrift und Unterschrift werden Literaturhinweise, kodikologische Aspekte, Ausführungen zu Paläographie und Datierung, Hinweise auf den Text/die Texte und eine Beschreibung der Palimpsesteinheiten geboten. Im Einzelnen beschäftigt sich Grusková mit folgenden Handschriften:

Historicus graecus 10 (31-41): Der Palimpsestcodex umfasst 33 Folia [[or „Blätter"; „Folien" is something different in German]] mit einer Abschrift der Vita des Johannes Chrysostomos (verfasst von Symeon Metaphrastes). Auf einigen Blättern findet sich Text aus der Καθολικὴ προσῳδία des Ailios Herodianos. Das Projekt Rinascimento virtuale erfasste den Codex neu, wodurch herausgefunden wurde, dass alle übrigen, also nicht dem Werk des Ailios Herodianos zugehörigen Blätter der Handschrift einem einzigen Codex zuzurechnen sind, der auf das zehnte Jahrhundert datiert werden kann. Die Autorin stellt genau die Maße der Blätter (in Millimeter) dar, bietet graphische Übersichten über die einzelnen Lagen mit Nummerierung der einzelnen Pergamentblätter sowie Angaben zur Fleisch- und Haarseite und führt die wichtigen Argumente für die jeweilige Datierung an. Natürlich fehlen auch Ausführungen über den Erhaltungszustand (z.B. Wurmfrass, Schmutzflecken, Beschneidung der Palimpsestblätter) nicht. Für die unteren Handschriften stellt sie auch noch eine Zeichnung zur Verfügung, aus der klar der ursprüngliche Schriftspiegel und die Linierung des getilgten Textes hervorgehen. Dies lässt klare Rückschlüsse auf den Umgang mit dem Manuskript zu, denn der schmale Randstreifen scheint für Lemmata vorgesehen zu sein. Behandlung und Darstellung der weiteren Handschriften und Palimpseste erfolgen analog jener des Codex Historicus graecus 10.

Historicus graecus 73 (42-53): Einer kalligraphischen Minuskelhandschrift des zehnten Jahrhunderts (mit Constitutiones Apostolorum und Pseudo-Klemens Epistula ad Jacobum) wurden im dreizehnten Jahrhundert elf Palimpsestblätter hinzugefügt, mit denen sich Grusková im Besonderen beschäftigt. Die obere Handschrift weist folgende Texte auf: Synodikon vom Fest der Orthodoxie, Theodorus Studita Descriptio constitutionis monasterii Studii, Gebete und einen Bücherfluch des Theodosios IV. Die untere Handschrift enthält Fragmente eines Menologions.

Philosophicus et Philologicus graecus 158 (54-102): Insgesamt 240 Blätter umfasst dieser Codex mit dem sogenannten Etymologicum Gudianum aus dem elfen Jahrhundert. In einigen Abschnitten finden sich Fragmente eines größeren Textzusammenhangs (Menaeum Septembris et Octobris), der im dreizehnten Jahrhundert getilgt und von zwei Kopisten wahrscheinlich in Süditalien überschrieben wurde. Insgesamt sind von der unteren Handschrift vierzig Bifolia, also Doppelblätter, und zwei Einzelblätter erhalten geblieben. Weitere drei Doppelblätter und zwei Einzelblätter bezeugen in ihrer unteren Schrift ein Evangelienlektionar. Auf anderen Doppelblättern finden sich in der unteren Handschrift Fragmente der griechischen Bibelübersetzung (Septuaginta) mit Abschnitten aus Ezechiel, Susanna und Daniel. Schließlich sind auf anderen Palimpsestblättern erhalten: Fragmente homiletisch-hagiographischer Sammelhandschriften, ein Triodion (Fragmente), ein Menaeum Maii (Fragmente), ein Menologium (Fragmente) und noch nicht identifizierte Textreste.

Philosophicus et Philologicus graecus 286 (103-129): Pergament aus etwa dreizehn verschiedenen Minuskelhandschriften des zehnten bis zwölften Jahrhunderts wurde für diesen Codex verwendet, der im ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts erstellt wurde. Die obere Textschicht überliefert eine wichtige Grammatik (Manuel Moschopulos Erotemata). Offensichtlich fanden homiletische, hagiographische und liturgische Codices, die nicht mehr gebraucht wurden, Verwendung für diesen Codex. Gruskova/ geht der Frage nach, woher, das heisst aus welcher Bibliothek, diese wieder verwendeten Codices ursprünglich stammen. Die unteren Handschriften bezeugen: Gregorius Nazianzenus Orationes, Fragmente eines Menologium, Scripta anonyma adversus Iudaeos (Fragmente), Ioannes Chrysostomus In Epistulam I ad Corinthios und In Matthaeum (Fragmente), Fragmente eines Evangelienlektionars, unleserliche und nicht identifizierbare Abschnitte, Reste homiletischer und hagiographischer Sammelhandschriften sowie ein Tetraevangelium (Fragmente).

Iuridicus graecus 18 (130-169): Die teilweise verstümmelte, juristische Handschrift aus dem elften Jahrhundert besteht aus zwei ursprünglich nicht zusammen gehörenden Teilen. Die obere Handschrift der beiden Teile ist s eine Ecloga privata. Die untere Textschicht weist im ersten Teil Ioannes Chrysostomus <De sancta pentecoste Homilia> (Fragmente) und Fragmente der Acta Petri et Pauli auf. Im zweiten Teil finden sich Spuren hymnographischer Handschriften, Fragmente einer homiletischen Sammelhandschrift, Eusebius Caesariensis Chronicon (Fragmente), Fragmente eines Evangelienlektionars, verschiedene Textfragmente, Rezepte und diverses anderes bis hin zu schlecht lesbaren Textresten.

Auf zweiundsiebzig Tafeln sind dem Band ganzseitige Abbildungen von einzelnen Seiten der fünf Codices beigefügt, darunter etliche Details als UV-Digitalaufnahmen. So werden die Vorteile einer computerbasierten Untersuchung von Palimpsesten gleich vor Augen geführt. Gerade die qualitativ hochwertigen Schwarz-Weiß-Abbildungen vermitteln einen noch tieferen Einblick in das Ausmaß und Wesen von Palimpsesthandschriften. Darüber hinaus enthält das Buch am Anfang ein Abbildungsverzeichnis mit Bibliographie, ein Vorwort, ein Abkürzungsverzeichnis und eine Einleitung , am Ende mehrere Register (Handschriften, Autoren und Werke, Personen und Sachen, moderne Autoren).

Jana Grusková legt eine sehr detaillierte Untersuchung von fünf ausgewählten Codices der Österreichischen Nationalbibliothek vor. Die Fülle von präzise dargebotenen Informationen, die Vorsicht und Logik ihrer Argumentationen und Schlussfolgerungen sowie die Genauigkeit auch bei der Darbietung der griechischen Transkriptionen (ohne Übersetzung) machen das Buch zu einer wahren Fundgrube für den Spezialisten. So manches Detail regt sofort zu weiteren Überlegungen und eigenen Untersuchungen dieser und auch anderer Handschriften an. Es bleibt zu hoffen, dass Grusková bald wie angekündigt weitere Spezialuntersuchungen vorlegen wird.



Notes:


1.   Vgl. die Veröffentlichung der beiden Teile des Codex: Constantinus Tischendorf, Codex Ephraemi Syri rescriptus sive fragmenta utriusque Testamenti e codice Graeco Parisiensi celeberrimo quinti ut videtur post Christum seculi, Leipzig: Tauchnitz, 1843 und 1845. — Zu Tischendorfs Forschungsarbeit vgl. Christfried Böttrich, Tischendorf-Lesebuch. Bibelforschung in Abenteuern, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 1999.
2.   Allerdings ist das Verb im Griechischen nur das Adjektiv attestiert, über dessen Bedeutung nicht ganz klar scheint. Vgl. Theodor Birt, Kritik und Hermeneutik nebst Abriss des antiken Buchwesens, München: Beck, 1913, 290; Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters, Berlin: Walter de Gruyter, 2. Auflage, 1986, 26.
3.   Herbert Hunger, Katalog der griechischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek I. Codices historici, Codices philosophici et philologici. Museion 4.1,1. Wien: ÖNB, 1961, 15, 82-83, 261, 385-386; idem und Otto Kresten, Katalog der griechischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek II. Codices juridici, Codices medici. Museion 4.1,2, Wien: ÖNB, 1969, 33-34.

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