Manfred G. Schmidt (ed.), Hermann Dessau (1856-1931) zum 150. Geburtstag des Berliner Althistorikers und Epigraphikers. Beiträge eines Kolloquiums und wissenschaftliche Korrespondenz des Jubilars. Corpus inscriptionum Latinarum / Auctarium s.n., v. 3. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2009. Pp. xiv, 400. ISBN 9783110215731. $140.00.
Reviewed by Erich Kettenhofen, Universität Trier
Im Jahr 2006 fand in Berlin ein Kolloquium zu Ehren von Hermann Dessau statt anlässlich seines 150. Geburtstages, an der Stätte, wo der Geehrte jahrzehntelang selbstlos seine Arbeitskraft in den Dienst des Corpus Inscriptionum Latinarum gestellt hatte, wie A. Stein es in seinem Nachruf so trefflich formulierte.1 Die Beiträge namhafter Gelehrter, die auf diesem Kolloquium gehalten wurden, sind von M. G. Schmidt im vorliegenden Band zusammengefasst worden.2 Beigegeben ist eine Edition der Korrespondenz Dessaus, vorwiegend mit Th. Mommsen und O. Hirschfeld, soweit sie im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft aufbewahrt wird. Eine Sammlung seiner Kleinen Schriften, die S. Frankfurter in seinem Nekrolog anregte,3 verhinderten die Zeitumstände nach Dessaus Tod in Deutschland. Daher gebührt dem Veranstalter des Kolloquiums und Herausgeber des hier vorliegenden Bandes Dank für diese späte Würdigung eines der bedeutendsten Schüler Th. Mommsens, der, wie W. Eck in seinem Grusswort (S. VII-VIII) zu Recht schreibt, seine Ideen nicht hätte umsetzen können, hätte er nicht so gewissenhafte Helfer zu seiner Seite gehabt wie Hermann Dessau.4
In seinem Schreiben an die Preuss. Akademie hob H. Dessau hervor, sein Leitstern sei der Psalmvers 27,4 gewesen. Aus einer Rabbinerfamilie abstammend (sowohl väter- wie mütterlicherseits) blieb er der mosaischen Religion (so in seinem Habilitationsantrag von 1884) treu und trat nicht wie zahlreiche seiner Glaubensbrüder zum Christentum über, auch wenn er dadurch mit Nachteilen für seine Karriere rechnen musste. Mit Bedacht ist daher der Beitrag von S. Jersch-Wenzel (Ein jüdischer Althistoriker im Dienst der Wissenschaft, S. 1-9) an den Anfang des Bandes gestellt. Dessaus Wirken an der Institution, der er von 1884 bis 1929, also kurz vor seinem Tod, verbunden war, der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, wird von K. Wannack beleuchtet (S. 11-29). Sie kann sich dabei auf ihre zwei Jahre zuvor erschienene Magisterarbeit (bei K.-P. Johne) stützen, die als Begleitlektüre zu dem vorliegenden Band weiter lesenswert ist.5 An mehreren "grossartigen Denkmälern deutschen Gelehrtenfleisses" 6 hat H. Dessau mitgearbeitet, so an der ersten Auflage der Prosopographia Imperii Romani. K.-P. Johne, in viel späterer Zeit selbst Mitarbeiter an diesem Werk, beschreibt so aus intimer Sachkenntnis "Hermann Dessau und die Anfänge der prosopographischen Forschung" (S. 31-46). Viel Wissenswertes ist hier zusammengetragen, und der Blick wird nicht ohne Grund auch auf die zweite Auflage dieses Werkes gerichtet, die H. Dessau noch mitinitiiert hat, ohne das Erscheinen des 1. Bandes dieser Auflage 1933 noch zu erleben. Mit Respekt liest man, dass H. Dessau bei dem dreibändigen Werk für den gesamten 2. Band sowie--abgesehen von den Buchstaben P, Q und R--auch für den 3. Band verantwortlich war.7 H. Dessau war mit dem in den Jahren 1897 und 1898 erschienenen Werk, so Johne (S. 35) mit Recht, "der führende Prosopograph geworden".
Von welchem vor 120 Jahren erschienenen Aufsatz wird man heute noch behaupten können, er habe an Aktualität nichts eingebüsst? Es ist der Aufsatz des damals 33jährigen Privatdozenten "Über Zeit und Persönlichkeit der Scriptores Historiae Augustae".8 H. Brandt liefert dazu "einige Beobachtungen und archivalische Neuentdeckungen" zu der Forschungskontroverse (in den ersten Jahren bis 1894), die dieser Aufsatz 1889 ausgelöst hatte, waren doch die Opponenten keine geringeren als Dessaus verehrter Lehrer und Mentor Th. Mommsen sowie E. Klebs, sein enger Mitarbeiter an der PIR an derselben Arbeitsstätte (S. 47-59). Wer die S. 59 Anm. 50 zitierten, allerdings wenigen späten Publikationen Dessaus zur Historia Augusta heute nochmals durchliest, kann H. Brandt nur zustimmen, dass das Interesse Dessaus keineswegs erloschen war oder dass er ob der Auseinandersetzungen müde geworden sei.9 A. Glock publiziert in einem Anhang dazu drei Briefe zur damaligen Kontroverse um die Historia Augusta (S. 61-71), darunter die als verschollen geglaubte Antwort Th. Mommsens auf die Zusendung des so berühmt gewordenen Artikels mit der Bitte um "gefällige Durchsicht und Beurtheilung", wie es H. Dessau am 31. 12. 1888 "ergebenst" formulierte (M 52). Die Kontroverse führte nicht zu einem Bruch zwischen Lehrer und Schüler, auch nicht zwischen Dessau und Mommsens Nachfolger O. Hirschfeld. Gleichwohl lernen wir H. Dessau in seiner Korrespondenz kennen als jemanden, der seine gewonnenen Erkenntnisse nicht überheblich, aber selbstbewusst vertritt; nach Wannacks Meinung10 trugen die Ansichten Dessaus gar "emanzipatorische Züge".
Mit den Inscriptiones Latinae Selectae hat sich H. Dessau ein monumentum aere perennius (Hor., od. 3,30,1) geschaffen; M. G. Schmidt würdigt "den Dessau",11 wie er unter Fachgelehrten noch heute genannt wird (S. 73-86), würdigt jedoch darüber hinaus das gesamte Wirken Dessaus im Bereich der lateinischen Epigraphik. A. Stein hatte mit Recht in seinem Nachruf hervorgehoben, dass am CIL "niemand ausser Mommsen selbst so tätigen Anteil genommen hat wie Dessau".12 Aus der jahrzehntelangen aufopferungsvollen Tätigkeit am CIL her war wohl nur H. Dessau dazu prädestiniert, eine Auswahlsammlung an (insgesamt 9522) lateinischen Inschriften vorzulegen, deren Erfolgsgeschichte in der Zeit der gedruckten Medien unbestritten ist.13 Mit dem Alterswerk, das Dessau nicht abschliessen konnte, hat sich M. Dohnicht (Kaisergeschichte im Schatten Mommsens?, S. 87-105) auseinandergesetzt;14 es ist weitgehend wirkungslos geblieben. Dohnicht führt- sicher zu Recht--die Auswirkung der Geschichte Deutschlands nach 1933 als Grund an.15 Weitere Exempla des Gelehrtenfleisses H. Dessaus bieten die folgenden Beiträge. A. U. Stylow publiziert "Drei Briefe Hermann Dessaus an Fidel Fita" (S. 109-124), darunter einen in spanischer Sprache an den Jesuiten und Altertumsforscher, wobei die Diskussion um die S. 114-115 wiedergegebene Inschrift, zu der sich Dessau 1906 bereits geäussert hatte, zwei Jahre, nachdem diese in den Besitz der Königl. Akademie gelangt war, von Stylow selbst in bester Dessau'scher Art, mit bewundernswerter Kenntnis der modernen Forschungsliteratur in spanischer Sprache, erfolgt. M. Buonocore macht die Leser mit den in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrten Briefen H. Dessaus bekannt (S. 125-156). In seiner Zeit als Stipendiat in Rom hatte er sich das Italienische so gut angeeignet, dass die Korrespondenz mit G. B. de Rossi (R 1-24, S. 128-143), E. Stevenson Junior (S 1-14, S. 144-155) und G. Gatti (G 1- 2, S. 156) in der Muttersprache der Korrespondenten Dessaus erfolgte.
Den grösseren Teil des Buches nimmt die Korrespondenz H. Dessaus (auch Postkarten und Billetts befinden sich darunter) ein mit seinem Lehrer Th. Mommsen aus den Jahren 1876 bis zu dessen Tod sowie mit O. Hirschfeld, dessen Nachfolger an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, aus den Jahren 1881 bis 1921 (Hirschfeld starb 1922). A. Glock hat sie unter Mitwirkung des Herausgebers ediert (S. 157-361). Liest man die Korrespondenz aufmerksam durch, so stösst man auf Schritt und Tritt auf einen Gelehrten, der über eine souveräne Kenntnis der inschriftlichen lateinischen Quellen verfügt, der für die Sache der Inschriftencorpora sich um kleinste Details bemüht (nach M 125 hat ein Fragment zwei Buchstaben geliefert), verdächtigen Inschriften auf der Spur ist (vgl. H 39),16 die Bekanntschaft mit Museumsdirektoren im fernen Tunesien sucht (H 40). Die Jahre nach dem Tode seines Lehrers Th. Mommsen (+ 1. 11. 1903) waren darüber hinaus geprägt durch die Mühen um die Herausgabe von dessen gesammelten Schriften, wobei H. Dessau die epigraphischen Beiträge betreute und herausgab. Menschlich bewegend ist der Versuch H. Dessaus, den Kontakt mit R. Cagnat und F. Haverfield unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht abreissen zu lassen (vgl. V 1-2, S. 363-364). Es folgen noch zwei Schreiben aus den Personalakten aus den Jahren 1920 und 1926, die ebenfalls gut die Persönlichkeit des hier Geehrten beleuchten. A. Glock hat in verdienstvoller Weise für das vorliegende Buch ein Repertorium der weit verstreuten und nur bruchstückhaft erhaltenen wissenschaftlichen Korrespondenz H. Dessaus erstellt (S. 369-376). Den Band beschliessen ein Index zu den erwähnten Quellenzeugnissen, der tadellos gestaltet ist (S. 379-384) sowie ein Personenindex (S. 385-400, mit einigen Versehen: so war E. Hohl Professor in Rostock, nicht in Jena; bei H. Peter und H. Schiller fehlen die Lebensdaten, 1837-1915 bzw. 1839-1902).
Man mag bedauern, dass der Herausgeber auf den Abdruck des Schriftenverzeichnisses des hier Geehrten verzichtet hat,17 so dass man weiterhin auf dasjenige angewiesen ist, das S. Frankfurter seinem Nekrolog angefügt hat.18 Wenn schon die von diesem erhoffte Sammlung der Kleinen Schriften19 Dessaus wohl nie in Angriff genommen wurde, so wäre ihm mit der Zusammenstellung aller seiner Beiträge ein noch würdigeres Denkmal gesetzt worden.
Ein tabellarischer Lebenslauf des Geehrten wäre m. E. wünschenswert gewesen. Die Gestaltung des Buches ist ausgezeichnet, Fehler sind ganz selten, am auffälligsten noch die mehrmalige--irrige--Schreibung des Vornamens als Herrmann im Beitrag von H. Brandt.20
Dem Herausgeber des Bandes sei herzlich gedankt, dass er den 150. Geburtstag H. Dessaus zum Anlass genommen hat, einem Forscher die (leider sehr späte) Würdigung zukommen zu lassen, die er verdient hat, denn er hat--ohne professorale Allüren--Grosses für die Altertumswissenschaft geleistet, das auch heute, im Zeitalter des Internets, grossen Respekt abverlangt.
Notes:
1. Arthur Stein, Hermann Dessau, Klio 25, 1932, S. 226-244, hier 227. Neben dem Nekrolog von Salomon Frankfurter, Bursians Jahresbericht 241. Band = 59. Jahrgang. Vierte Abteilung, 1933, S. 80-107 blieb dies die einzige Würdigung des Geehrten nach seinem Tod. Schon 1933 war es nicht mehr ratsam in Deutschland, die unbestreitbaren Verdienste eines jüdischen Forschers hervorzuheben. Beide Nachrufe stammen übrigens von Glaubensbrüdern.
2. Es fehlt lediglich der Beitrag von K. Wachtel zu Edmund Groag und Arthur Stein, ebenfalls jüdische Gelehrte, da Wachtel eine Monographie darüber in Aussicht gestellt hat; vgl. S. XI Anm. 8.
3. Frankfurter (hier Anm. 1) S. 93.
4. Als Beleg möchte ich nur aus dem Brief des gerade promovierten 21Jährigen an Th. Mommsen zitieren (als M 4 abgedruckt auf S. 163): "Fortan stehe ich also ganz Ihnen und den Interessen des grossen Werkes zur Verfügung". Im Jahre 1900 spricht er (in M 114) von der "hohen Aufgabe, das C. I. L. im Flusse zu erhalten" (ebenfalls an Th. Mommsen gerichtet).
5. K. Wannack, "Hermann Dessau. Der fast vergessene Schüler Mommsens und die Grossunternehmen der Berliner Akademie der Wissenschaften", Schriften zur Ideen- und Wissenschaftsgeschichte 1, Hamburg 2007. Für diejenigen, für die Quellen das eigentliche Werkzeug des Historikers sind, bleibt H. Dessau allerdings 'unvergessen'.
6. In Anlehnung an eine Formulierung A. Steins (hier Anm. 1) aus seinem Nachruf S. 228.
7. Paul von Rohden musste 1894 aus Gesundheitsgründen ausscheiden. Er konnte deshalb nur die Buchstaben P, Q und R bearbeiten.
8. Erschienen in Hermes 24, 1889, S. 337-392. Vgl. zur Bedeutung des Aufsatzes das Vorwort von J. Straub in der von ihm besorgten deutschen Übersetzung der Historia Augusta (Band I, Zürich und München 1976, S. V-XXXIX, hier S. V). E. Hohl verglich zu Beginn seines letzten, erst nach seinem Tod erschienenen Aufsatzes zur Historia Augusta (WS 71, 1958, S. 132-152) den Aufsatz Dessaus mit der Abhandlung F. A. Wolfs aus dem Jahre 1795, mit der dieser die kritische Homerforschung initiierte.
9. Auch hier sei ein Zitat angeführt aus dem Beitrag Dessaus aus dem Jahre 1921 in der Festschrift für C.-F. Lehmann-Haupt (hier S. 126-127): "Dass es ein und derselbe Schwindler ist, der unter der Maske verschiedener älterer Autoren Einfälle zum Besten gibt, auf die vor dem vorgerückten 4. Jahrhundert niemand kommen konnte, das ist meine Meinung, die zu meiner seit lange feststehenden Ansicht über die Entstehung der Kaiserbiographien im letzten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts stimmt."
10. Wannack (hier Anm. 5) S. 87.
11. Der Titel des Beitrags lautet: Der Dessau. Zur Erfolgsgeschichte einer Quellensammlung.
12. Stein (hier Anm. 1) S. 230.
13. So hat A. Magioncalda in ihrer Übersicht über die Kaisertitulaturen Dessaus Inscriptiones Latinae Selectae (ILS) als Basis ihrer Dokumentation verwandt: Lo sviluppo della titolatura imperiale da Augusto a Giustiniano attraverso le testimonianze epigrafiche, Torino 1991.
14. In einem Anhang (S. 106-108) listet Dohnicht die zu den einzelnen Bänden der Kaisergeschichte Dessaus erschienenen Rezensionen auf.
15. Dohnicht (hier Anm. 14) S. 105.
16. "Hier in Neapel habe ich mir das Vergnügen gemacht, in der Umgebung des Vororts Vomero nach einer vor einigen Jahren in der Civiltà cattolica veröffentlichten verdächtigen Inschrift zu suchen; gefunden habe ich die Inschrift nicht."
17. Es ist begrüssenswert, dass ein Photo H. Dessaus aus seinen späteren Lebensjahren das Buch schmückt (vor dem Inhaltsverzeichnis platziert). K. Wannack (hier Anm. 4) hat es S. 10 in Abb. 2 ebenfalls mitgeliefert, allerdings verkleinert. Dort ist in Abb. 1 noch ein eindrucksvolles Photo H. Dessaus aus jungen Jahren abgedruckt.
18. Frankfurter (hier Anm. 1) S. 102-107, S. 107 auch Ungedrucktes. Das Schriftenverzeichnis enthält leider nicht die vielen Hundert Artikel, die H. Dessau für die Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften beigesteuert hat.
19. Frankfurter (hier Anm. 1) S. 93.
20. Vgl. S. 47 (zweimal) und 58. Vgl. auch S. 59 Anm. 50 Hasebroeck statt richtig Hasebroek.
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